Auf der Suche nach einem Zionismus 2.0: Was Israel aus der Corona-Krise lernen kann

Eine zweite Ansteckungswelle brandet über Israel. Sie lässt soziale Probleme aufbrechen, die zuvor von der guten Wirtschaftslage einigermassen kaschiert waren. Aber eine Notlage, die nur gemeinsam zu bewältigen ist, könnte der Nation helfen, sich neu zu erfinden.

Alfred Bodenheimer, Jerusalem
Drucken
Demonstranten, die sich am 15. Juli vor Netanyahus Residenz in Jerusalem versammelten, werden mit Wasserwerfern vertrieben.

Demonstranten, die sich am 15. Juli vor Netanyahus Residenz in Jerusalem versammelten, werden mit Wasserwerfern vertrieben.

Ronen Zvulun / Reuters

Im vergangenen Jahr veröffentlichte der israelische Publizist Amotz Asa-El seinen nationalen Bestseller, «The Jewish March of Folly»; darin stellt er, auf den Spuren der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman, die jüdische Geschichte seit den Zeiten der Bibel als Reihung von politischen Fehlentscheidungen dar. An entscheidenden Wegmarken sei die Wahl nie auf die Option von Stärke und Einigkeit gefallen, sondern immer auf innere Spaltung und Anarchie. Die Analyse verstand der Autor auch als Mahnruf an das Israel von heute.

In einem Podcast-Interview Ende März wurde Asa-El gefragt, mit welchen Erwartungen er die Gegenwart betrachte. Er meinte, der Staat Israel habe bisher gezeigt, dass er in schweren Krisen imstande sei, die Differenzen zugunsten der Einheit zu überwinden. Darauf hoffe er auch bei einer Corona-Einheitsregierung.

Zweifel am Projekt Israel

Derzeit aber gehen die Dinge in eine andere Richtung. Seit Anfang Juli die zweite Pandemiewelle über das Land kam, herrscht ein Geist des Aufruhrs: Nicht zufällig orientierten sich einige der Tausenden von Menschen, die am 14. Juli vor der Residenz des Ministerpräsidenten demonstrierten, ausdrücklich am Sturm auf die Bastille.

Die in Not geratene Bevölkerung leidet am eigenen wirtschaftlichen Niedergang. Sie leidet aber ebenso daran, dass das Projekt Israel, dessen Gründung aus den Trümmern des Holocaust ein Triumph jüdischen Gemeinschaftswillens war, seine Seele verloren zu haben scheint. Ein Radiomoderator des staatlichen Informationssenders Reschet Bet sagte vor einigen Tagen, nachdem die Juden aus aller Welt hergekommen seien, um in diesem ihrem Staat zu leben, sähen sie sich nun einer Regierung gegenüber, die sich nicht um sie kümmere.

Es klang wie eine Bankrotterklärung des Zionismus, und zwar nicht aus dem Mund der üblichen postzionistischen Kritiker, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Doch diese Gesellschaft ist in sich schon länger brüchig, was in den vergangenen Jahren durch den wirtschaftlichen Boom überdeckt wurde, aber schon während der ersten Ausgangssperre im Frühjahr offensichtlich wurde.

Die ultraorthodoxe Bevölkerung etwa, die rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung umfasst, aber in manchen Städten und auch in gewissen Vierteln Jerusalems dominant ist, war damals besonders stark von der Pandemie betroffen. Mehr als Mitleid erfuhr sie Kritik, disziplinlos und schlecht informiert zu sein und nicht mit den Behörden zu kooperieren. Filme von Polizeikräften, die betende Orthodoxe vom (damals verbotenen) gemeinsamen Gebet fortzerrten, hinterliessen einen zwiespältigen Eindruck. Doch es war eine Zeit, als man noch darauf vertraute, dass die Kooperation aller zum Ziel führen werde, und nach kurzem Aufwallen von Zorn auf beiden Seiten fand man sich in gegenseitigem Verständnis.

Die Kulturschaffenden schweigen

Nun, nach dem Eintreffen der zweiten Welle, ist vieles anders, und wenn man etwas tiefer schürft, erkennt man die Ansätze des gesellschaftlichen Zerfalls schon früher – nicht zuletzt in der wirtschaftspolitischen Wende, die das Land im 21. Jahrhundert erlebt hat. Ein Symptom dafür waren die Entwicklung des Liegenschaftenmarktes und die staatliche Wohnbaupolitik.

Schon die sozialen Proteste von 2011 hatten die nicht mehr erschwinglichen Preise der Wohnungen für junge Familien zum Anlass. Statt das betreffende Gesetz mit Blick auf diese Verzerrungen zu reformieren, wurde ein sinnloses und für den Staat ruinöses System entwickelt, das staatlich finanzierte Neubauwohnungen zum ermässigten Kaufpreis durch Verlosung an Familien zuteilte. Unter dem Deckmantel des sozialen Wohnungsbaus wurden hier einfach staatliche Gelder ohne besondere Rücksicht auf die Bedürfnisse der Empfänger verschleudert.

Interessanterweise haben Kunst und Literatur auf diese Entwicklungen einstweilen kaum reagiert. In einem beissenden Artikel schrieb ein Kolumnist der Zeitung «Haaretz» kürzlich, die Not der Künstler infolge der Corona-Krise gehe den Leuten nicht wirklich nahe, weil Kunst, Theater, Musik und Literatur schon lange nicht mehr gesellschaftlich relevant seien. Die Kunst habe den Eindruck vermittelt, vor allem auf Selbstverwirklichung und Erfolg aus zu sein und sich um alles andere zu foutieren.

Derart pauschal formuliert mag das übertrieben sein, aber es fällt doch auf, dass auch in der jetzigen Situation die Stimmen von Kulturschaffenden nicht zu hören sind. Die Ikonen der Musik scheinen höchstens darauf zu warten, dass auch einmal ein Lied von ihnen im Programm der Staatsradios läuft, die zur Unterstützung einheimischen Schaffens ganz auf israelische Musik umgestellt haben. Den bahnbrechenden Essay oder die durchschlagende Rede derjenigen bekannten Autoren, die sonst zu allem etwas zu sagen haben, hat es bisher noch nicht gegeben.

Das Chaos vor der Krise

Vielleicht ist dies die Folge einer Kulturpolitik, die unter dem Diktat der letzten Kulturministerin, Miri Regev, künstlerische Unbotmässigkeit (wozu auch die Weigerung gehörte, in Siedlungen des Westjordanlands aufzutreten) mit dem Entzug staatlicher Mittel bestrafte. Vielleicht aber sind Kunst und Kultur auch schlicht zu weit weg von den im Moment mit Wucht ausbrechenden sozialen Problemen des Landes.

Schon im Februar dieses Jahres, unmittelbar bevor die Pandemie auch Israel heimsuchte, veröffentlichte die Literaturwissenschafterin Nurit Gertz eine Analyse der israelischen Gegenwartsliteratur. Sie stellte fest, dass die behandelten Romane allesamt kunstvolle Abbilder eines Chaos ohne erkennbare narrative Struktur seien, in dem auch die Gegensätze der Figuren aufeinanderprallten, ohne dass irgendeine Perspektive von Vermittlung oder eine weltanschauliche Leitlinie erkennbar werde. Dieser verhedderte Diskurs widerspiegelte die gesellschaftliche und politische Situation Israels vor der jetzigen Krise vielleicht klarer, als es zum damaligen Zeitpunkt überhaupt erkennbar war.

Das Fehlen sinnstiftender Stimmen, die imstande sind, über Wutreden hinaus neue Perspektiven zu bauen, ist derzeit evident. Dabei wäre es vielleicht, wie selten zuvor, auch eine Gelegenheit, Israel neu zu denken. Denn eine Krise, die alle trifft, kann nur von allen gemeinsam bewältigt werden.

Aus dem Scheitern lernen

Im grössten Krankenhaus Haifas, wo (wie in allen Krankenhäusern in Israel) jüdisches und arabisches Personal Hand in Hand arbeiten, trugen arabische Mitarbeitende Gesichtsmasken mit der Aufschrift «Partner im Schicksal, Partner in der Regierung». Das ist durchaus als Forderung nach stärkerer politischer Beteiligung der heute gut organisierten arabischen Einwohner im Land zu lesen, aber eben auch als Bekenntnis zum gemeinsamen Staat.

An der Partnerschaft zwischen den Bevölkerungsgruppen kommt heute niemand mehr vorbei – und wenn ein ultraorthodoxer Journalist angesichts einer in der zweiten Welle neuerlich empfundenen Diskriminierung der Ultraorthodoxen meinte, er verstehe nun die Araber besser, da er selbst Ausgrenzung erfahre, wird hier von verschiedenen Seiten ein Empathiepotenzial erkennbar, das helfen könnte, diese Gesellschaft zu reparieren.

Denn womöglich sind es keine pompös aufgezogenen Friedensprojekte, die Gesellschaften zueinanderbringen, und sicher sind es keine idealistischen Aufrufe zum Konsumverzicht, die die Grenzen einer entsolidarisierten Wirtschaft aufzeigen. Es sind eher die Lehren aus gescheiterten Gesellschaftsmodellen und erfolgversprechenden Alternativen, die nicht selten gerade aus Krisen erwachsen.

Dass Israel aus der jetzigen Krise als ein anderes Land hervorgehen wird, bestreitet kaum mehr jemand, der die Situation genau beobachtet. Wie dieses andere Land aussehen wird, ist offen, und es gibt allseits immer noch genügend Kräfte, die bereit sind, sich gesellschaftlichen Aufbrüchen entgegenzustemmen. Doch eine Dynamik ist entfesselt, die, noch ziellos und wutentbrannt, zwangsläufig in etwas Neues münden wird. Welche Kräfte imstande sind, diese Dynamik zu bündeln, und ob sie es in segensreicher Weise tun werden, bleibt zu beobachten. Man könnte insofern die jetzige Krise auch als Chance für einen Zionismus 2.0 bezeichnen.

Mehr von Alfred Bodenheimer (abd)