Nachrichtendienste berichten 800 Reservisten unter Extremismus-Verdacht

Berlin · Die drei deutschen Nachrichtendienste berichten gegenüber dem Parlamentarischen Kontrollgremium von steigendem Potenzial des Extremismus am rechten, linken und religiösen Rand. Sie schauen nun auch in der Bundeswehr und bei Reservisten genauer hin.

 KSK-Elitesoldaten trainieren nahe Magdeburg den Häuserkampf und eine Geiselbefreiung (Archivbild von 2017).

KSK-Elitesoldaten trainieren nahe Magdeburg den Häuserkampf und eine Geiselbefreiung (Archivbild von 2017).

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Die intensive Befassung mit den wachsenden Gefahren durch Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus darf nach Überzeugung der Präsidenten der drei deutschen Nachrichtendienste nicht dazu führen, die Bedrohungen durch Linksextremismus und islamistischen Terrorismus aus dem Blick zu verlieren. In allen drei Bereichen zeichneten sich alarmierende Zunahmen ab, erläuterten die drei führenden Sicherheitsexperten in einer dreistündigen Anhörung des gewöhnlich geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Bundestages.

Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus bewertete Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang als derzeit größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland. Das Personenpotenzial sei im vergangenen Jahr auf 32.000 Extremisten gestiegen, von denen rund 13.000 gewaltorientiert seien. Doch ähnlich hohe Zahlen würden auch bei den Linksextremisten verzeichnet. Hier geht der Verfassungsschutz von einer Steigerung auf ein Personenpotenzial auf 33.500 aus, worunter 9200 als gewaltorientiert eingestuft werden.

Es sei kein Fehler, je nach Berechnung von über 200 Todesopfern rechter Gewalt zu sprechen, sagte Haldenwang. Doch Sorge bereitet ihm ebenfalls die zunehmende Aggressivität auf linker Seite. „Auch die Tötung von Menschen wird inzwischen billigend in Kauf genommen“, stellte er fest. Nur glücklichen Umständen sei es zu verdanken, dass es im vergangenen Jahr keine Todesopfer linker Gewalt gegeben habe. Diese werde „immer enthemmter“ und richte sich mal gegen Polizisten, mal gegen eine Immobilienmaklerin und als „first class Gegner“ gegen Mitglieder der AfD. Ohne den Namen zu nennen, kritisierte der Verfassungsschutz-Präsident die Berufung der Linken-Politikerin Barbara Borchardt zur Landesverfassungsrichterin in Mecklenburg-Vorpommern. Die Antikapitalistische Linke (AKL) sei nicht nur gegen die bestehende Wirtschaftsordnung gerichtet, sondern stelle auch einzelne Grundrechte in Frage. Deshalb sei es „unerträglich“, wenn ein erwiesenes AKL-Mitglied Teil eines Verfassungsgerichtes werde.

Ausweitende Strukturen im rechtsextremistischen Lager führen zu weiteren Beobachtungsobjekten des Verfassungsschutzes. Als Verdachtsfälle nannte Haldenwang neben der Jungen Alternative, dem Compact-Magazin, dem Institut für Staatspolitik erstmals auch den Verein „Ein Prozent“. Zudem werde genau beobachtet, welchen Einfluss führende Politiker des „Flügels“ in der AfD nach dessen formeller Auflösung spielen.

Ein steigendes Personenpotenzial verzeichnet der Verfassungsschutz zudem bei den Anhängern des islamistischen Extremismus: Es stieg von 26.500 auf 28.020. Das äußerlich zerschlagene Terrornetzwerk Islamischer Staat macht nach Erkenntnissen des Bundesnachrichtendienstes (BND) gute Fortschritte mit der Neuformierung im Untergrund. Sowohl in Syrien als auch im Irak entfalteten IS-Kämpfer bereits wieder Aktivitäten, schilderte BND-Präsident Bruno Kahl. Die Corona-Bedingungen hemmten derzeit das Vorgehen der örtlichen Sicherheitskräfte.

Darüber hinaus werde Corona zum Stresstest für die Sicherheitsstrukturen weltweit. Nicht nur die Weltwirtschaft werde beschädigt, das Virus verschärfe auch bestehende Konflikte und bedrohe das geopolitische Kräfteverhältnis. „Autoritäre Staaten versuchen, im Schatten der Corona-Krise ihre Einflusssphären auszubauen“, lautete Kahls aktuelle Situationsbeschreibung.

Auch innerhalb der Bundeswehr fällt der Extremismus immer deutlicher auf. Vor einem Jahr berichtete Christof Gramm, Chef des Militärischen Abschirmdienstes, von rund 500 Verdachtsfällen. Inzwischen seien es über 600. „Wir schauen genauer hin“, erklärte Gramm. Er bezifferte die Zahl der inzwischen erwiesenen Extremisten auf 14. Hinzu kämen 38 Personen mit „fehlender Verfassungstreue“, die oft eine Vorstufe zum Extremismus darstelle. Überdurchschnittlich hoch sei der Anteil der Rechtsextremisten im Kommando Spezialkräfte. Schritt für Schritt gelinge es dem MAD, hier Licht hineinzubringen. Es herrsche ein sehr hoher Korpsgeist, und es gebe auch einige Figuren, die für eine Mauer des Schweigens sorgten. Insgesamt habe der MAD 30 Verdachtsfälle in der Bearbeitung, aktuell noch 20. Gramm räumte ein, dass Informationen über bevorstehende Recherchen aus dem MAD heraus an KSK-Angehörige weitergegeben worden seien. Dies sei „nicht in Ordnung“ gewesen, die betroffene Person habe den MAD inzwischen verlassen. Aufhorchen ließ sein Hinweis, dass bei der Überprüfung der Reservisten zwischen Verfassungsschutz und Militärischer Abwehr „weit über tausend Fälle erörtert“ und als Konsequenz über 800 Reservisten aus der Planung herausgenommen worden seien. Der Vorsitzende des Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, mahnte eine bessere Kommunikation an. Der Verband wünsche sich, „dass uns die Extremisten mitgeteilt werden, damit auch wir sie aus unserem Verband ausschließen können“, sagte Sensburg unserer Redaktion. „Oft erfahren wir nicht einmal, dass gegenüber einem Reservisten die Uniformtrageerlaubnis entzogen worden ist“, kritisierte Sensburg.

Noch in dieser Woche will Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erläutern, wie es mit dem KSK und seinen Strukturen weitergehen soll. Für den Sommer kündigte Haldenwang eine Übersicht über die Verbreitung von rechtsextremistischen Personen innerhalb des Öffentlichen Dienstes an.

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