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„Politischer Islam“ in Deutschland – Gefahr oder Panikmache?

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Eric Beres
Joseph Röhmel
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Experten und Verfassungsschützer warnen verstärkt vor einem „politischen Islam“ und vor „legalistischen Islamisten“: Diese Strömungen versuchten, gewaltfrei und auf legalem Weg islamische Zivilisationen zu errichten. SWR2 Wissen und BR Kontrovers konnten mit einem Aktivisten aus dieser Szene sprechen.   

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Ein Gewerbegebiet im Norden Hamburgs: Hier hat die sogenannte Furkan-Gemeinschaft ihren Sitz. SWR und BR treffen Furkan-Sprecher Cenk Göncü. Er hat sich bewusst für das Interview entschieden. Man müsse ganz offen der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber zu verstehen geben, welche Ziele man verfolge, sagt der Furkan-Sprecher: „Wir möchten das Richtige und das Falsche gemäß des Korans darlegen. Uns schwebt die Zivilisation des Propheten vor.“

Verfassungsschützer: Furkan-Gemeinschaft Teil des legalistischen Islamismus

Verfassungsschützer zählen die Furkan-Gemeinschaft zum Spektrum des sogenannten legalistischen Islamismus. Im Gegensatz zu dschihadistischen Organisationen wie dem IS agierten legalistische Islamisten gewaltfrei, um dauerhaft Gesellschaften zu unterwandern und islamische Staaten zu errichten. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz achten legalistische Islamisten darauf,  weder durch Handlungen noch durch öffentliche Äußerungen einen justiziablen Fehler zu begehen: „In internen Zirkeln, Schulungsmaßnahmen und Fortbildungsveranstaltungen wird jedoch eine islamische Rechts-, Gesellschafts- und schließlich auch Staatsordnung propagiert, die mit wesentlichen Aspekten des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist.“

Die Furkan-Gemeinschaft etwa wurde in den 1990er-Jahren in der Türkei von ihrem Anführer Alparslan Kuytul gegründet. In Deutschland hat die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in mehreren Städten Ableger gegründet: in Hamburg, Dortmund oder München.

Wie steht die Furkan-Gemeinschaft zum Handabhacken?

Furkan-Sprecher Cenk Göncü gibt im Interview zu verstehen, dass seine Organisation keine Gewalt ausübt. Eine pluralistische Demokratie schwebt der Furkan-Gemeinschaft aber auch nicht vor. Göncü zufolge sind Islam und Säkularismus „nicht miteinander kompatibel“.

Ein weiteres Beispiel sind vorzeitliche Strafen, die im Koran verbrieft sind: etwa das Handabhacken bei Diebstahl. Cenk Göncü fällt es erkennbar schwer, sich mit Blick auf die Gegenwart davon zu distanzieren: „Im Islam ist das so, dass einige Gesetze, wie zum Beispiel das Abschneiden der Hand, hart ist, weil es bestimmte Gesetze gibt, die den Einzelnen schaden, um das Allgemeinwohl nicht zu gefährden.“

Islamwissenschaftler: drakonische Körperstrafen abgeschafft

Für den Islamwissenschaftler Professor Matthias Rohe von der Universität Erlangen-Nürnberg sind die Positionen der Furkan-Gemeinschaft nicht nur unvereinbar mit einem säkularen Rechtsstaat, in dem es keine Staatsreligion geben kann. Positionen wie etwa zum Thema Handabhacken seien auch theologisch heute kaum noch vertretbar: “Die meisten islamisch geprägten Länder haben diese drakonischen Körperstrafen abgeschafft. Und das lässt sich durchaus auf der Basis von Scharia-Argumentationen begründen. Wenn man nämlich das islamische Recht als eine dynamische Materie liest. Und es gibt eine Mainstream-Meinung, die sagt: Das Recht ist abhängig von den Zeiten und von den Umständen der Lebensverhältnisse.”

Umfrage unter allen Verfassungsschutzämtern

Verfassungsschützer haben die Furkan-Gemeinschaft erst seit kurzem im Blick. Deutschlandweit werden ihr inzwischen 350 Anhänger zugerechnet. Sie gilt im Spektrum des legalistischen Islamismus als eher kleine Organisation.   

SWR2 Wissen und BR Kontrovers haben bei allen Verfassungsschutzämter in Bund und Ländern nachgefragt. Demnach hat der legalistische Islamismus insgesamt mehr als 13.000 Anhänger. Allein in Baden-Württemberg sind es rund 2.450, in Bayern mehr als 3.300. In anderen Ländern wie Rheinland-Pfalz sind es dagegen nur rund 50. In fast allen Bundesländern gibt es demnach Moscheegemeinden mit Bezügen in das legalistische Islamismus-Milieu.

„Wir gehen davon aus, dass dieser legalistische Islamismus gefährlicher als Salafismus oder gewaltbereiter Extremismus ist“, sagt Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen. Legalistische Islamisten versuchen Freier zufolge, in die Gesellschaft einzusickern und Politik und Gesellschaft für sich zu vereinnahmen und zu beeinflussen: „Und dadurch können sie langfristig unsere Demokratie nicht nur tangieren, sondern auch schwer beschädigen.“

Verfassungsschützer warnen vor Internet-Kampagnen

Mit Sorge beobachten Verfassungsschützer auch Bewegungen, die im Internet unterwegs sind und dort großflächig Kampagnen starten. Eine solche aus Sicht der Verfassungsschützer demokratiefeindliche Organisation ist im Rhein-Main-Gebiet ansässig. Mehr als 35.000 Nutzer haben die Facebook-Seite von “Realität Islam” gelikt.

Als in Nordrhein-Westfalen nur darüber nachgedacht wurde, ob es sinnvoll ist, dass schon junge Schülerinnen das Kopftuch tragen, initiierte „Realität Islam“ eine bundesweite Online-Petition gegen ein Kopftuchverbot, die mehr als 160.000 Menschen unterschrieben. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen spricht in seinem aktuellen Jahresbericht davon, „Realität Islam“ schüre „Ängste und Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat“, fördere eine Abwendung von demokratischen Werten. Zudem zeige sie eine ideologische Nähe zu einer 2003 in Deutschland verbotenen Gruppierung: der “Hizb-ut-Tahrir”, der Befreiungspartei. Diese propagiere den Aufbau eines Kalifats-Staats.

Kein Interview mit „Realität Islam“

Schwere Vorwürfe, über die wir mit Vertretern von “Realität Islam” sprechen wollen. Doch ein Interview knüpfen sie an die Bedingung, die sie betreffenden Passagen in unserem Beitrag vor Ausstrahlung überprüfen zu wollen. Eine Forderung, auf die wir nicht eingehen. Wir stellen unsere Fragen stattdessen schriftlich – bekommen jedoch keine Antwort.

Ist das Wort „Scharia“ schon verdächtig?

Der Erlanger Islamwissenschaftler Matthias Rohe sieht Gruppierungen wie „Realität Islam“ kritisch, warnt aber auch bei der Eingruppierung muslimischer Gemeinschaften durch Verfassungsschützer vor Verallgemeinerung: „Wenn beispielsweise schon die Verwendung des Wortes Scharia, die islamische Normenlehre, als Verdachtsfall gilt, dann ist das weit übers Ziel hinausgeschossen. Denn Scharia kann auch heißen: beten, fasten – also schlicht und ergreifend Gebrauch machen von der Religionsfreiheit. Ich muss die Leute also immer fragen: Was meint Ihr genau?“

DMG: Sind nicht Teil der Muslimbruderschaft

Ein Streitfall ist etwa die „Deutsche Muslimische Gemeinschaft“ (DMG). Diese deutschlandweit aktive Organisation sucht bewusst den Dialog mit Kirche und Politik, gilt aber laut Verfassungsschützern als Anlaufpunkt einer wichtigen islamistischen Bewegung, der sogenannten Muslimbruderschaft. BR und SWR bitten um ein Interview. Doch das lehnt die DMG ab – aus “unterschiedlichen Gegebenheiten“, wie sie schreibt. Schriftlich teilt sie mit:

„Die DMG ist ein originärer Teil der deutschen muslimischen Religionsgemeinschaft, die Menschen zu Gottesbewusstsein, Freiheit und Gerechtigkeit aufruft und sie dazu motivieren möchte, sich für das Wohl unserer Gesellschaft einzusetzen. Sie ist ausdrücklich kein Teil der Muslimbruderschaft und weist jeden Versuch einer Zuordnung zu dieser Organisation zurück.“

Recherchen weisen allerdings auf Bezüge zur Muslimbruderschaft hin. Vor einigen Jahren wurde sogar ein Vertreter des DMG-Vorgängervereins nach dessen Tod von der palästinensischen Hamas geehrt. Also von einer Organisation, die als Ableger der Muslimbruderschaft gilt und als Terrororganisation eingestuft wird.  

Die DMG sagt dazu, der Mann habe lange Zeit keinerlei Funktion innegehabt, sei allerdings ein geachtetes Mitglied in ihrer Gemeinschaft gewesen. Inzwischen geht die DMG gegen die Bundesregierung vor und will erreichen, dass ihr Name nicht mehr in den jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnt wird.

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