Mehr als zwölf Jahre nach Beginn des Aufstands kontrolliert Bashar al-Asad wieder zwei Drittel Syriens. Der Konflikt ist aber nicht gelöst, nur eingefroren. Auch in den Gebieten des Regimes leiden die Menschen an Armut und Hunger.
Mehr als zwölf Jahre nach den ersten Protesten gegen das Regime im März 2011 hat der syrische Präsident Bashar al-Asad den Aufstand niedergeschlagen. Nur noch der kurdische Nordosten, die Provinz Idlib im Nordwesten sowie die von Ankara besetzten Gebiete an der türkischen Grenze entziehen sich seiner Kontrolle. An der Frontlinie zur letzten Rebellenbastion Idlib gilt eine Waffenruhe, doch gibt es immer wieder Gefechte. Auch in den Gebieten des Regimes kommt es weiterhin zu Anschlägen, Überfällen und Morden.
Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2021 wurde Asad mit 95 Prozent für eine vierte Amtszeit gewählt. Die Opposition und der Westen kritisierten die Wahl als Farce. Damit bleibt der Mann, der die Hauptverantwortung für die Katastrophe in Syrien trägt, in Damaskus an der Macht. Allerdings herrscht der 57-Jährige über ein Land in Trümmern: Grosse Teile von Aleppo, Homs, Rakka und anderen Städten sind zerstört. Auch wenn es nur noch vereinzelt Kämpfe gibt, ist der Konflikt nicht gelöst, sondern nur eingefroren.
Während der Westen im Laufe des Krieges immer mehr an Einfluss verloren hat, haben die Türkei, Russland und Iran ihre Macht gestärkt. Die Türkei war lange die führende Schutzmacht der Opposition. Heute will die Regierung von Recep Tayyip Erdogan vor allem verhindern, dass das kurdische Autonomieprojekt in Syrien Erfolg hat und bei der eigenen kurdischen Minderheit Schule macht. Der türkische Präsident strebt danach, entlang der gesamten Grenze in Nordsyrien eine Pufferzone zu erobern. Inzwischen ist er auch zu Gesprächen mit Asad bereit, doch steht ein Durchbruch in den Beziehungen noch aus.
Russland gibt sich als neutraler Vermittler, doch ist Moskau der wichtigste Verbündete von Präsident Asad. Auch spielt seine Luftwaffe eine Schlüsselrolle im Kampf um Idlib und bombardiert dabei auch systematisch zivile Ziele. Der russische Präsident Wladimir Putin hat wiederholt Waffenruhen mit der Türkei vereinbart, doch wurden sie oft nicht eingehalten. Meist rechtfertigte Moskau die Fortsetzung der Offensive mit dem Kampf gegen «Terroristen» – ein dehnbarer Begriff, der neben den Jihadisten auch moderatere Rebellen umfasst.
Iran ist neben Russland Asads wichtigste Stütze. Seit Beginn des Krieges sind die iranischen Revolutionswächter mit zahlreichen Militärberatern in Syrien präsent. Teheran hat zudem Zehntausende von afghanischen, pakistanischen und irakischen Schiiten rekrutiert, um aufseiten Asads zu kämpfen. Als Teil des «Achse des Widerstands» spielt Syrien im strategischen Kalkül der Iraner eine zentrale Rolle. Langfristiges Ziel Teherans ist die Sicherung einer Landverbindung von Iran über den Irak und Syrien bis zur Hizbullah-Miliz in Südlibanon.
Die Wirtschaft liegt am Boden, die Währung ist kollabiert, viele Syrer leiden Hunger, und für den Wiederaufbau fehlt das Geld. Nach Schätzung der Weltbank ist die syrische Wirtschaft seit 2010 um 60 Prozent geschrumpft. Laut dem Welternährungsprogramm haben 12,4 Millionen Syrer keinen gesicherten Zugang zu Nahrung. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung erhält nicht ausreichend ärztliche Hilfe. Durch die Corona-Pandemie und das schwere Erdbeben vom 6. Februar 2023 hat sich die soziale Lage noch weiter verschlechtert.
Der dramatische Kollaps des Banken- und Finanzsystems in Libanon hat die Krise in Syrien weiter verschärft. Die Währung hat dramatisch an Wert verloren. Die amerikanischen Caesar-Sanktionen, die im Juni 2020 in Kraft traten, haben die Wirtschaft zusätzlich geschwächt. Aufgrund der von den USA, der Uno und der EU gegen das Regime verhängten Finanz- und Handelssanktionen kommt kaum noch Erdöl ins Land. Immer wieder wird an den Tankstellen der Treibstoff knapp.
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde durch den Konflikt vertrieben, rund 6,5 Millionen Syrer leben als Flüchtlinge im Ausland. Allein 3,7 Millionen haben Zuflucht in der Türkei gefunden. Da ihre Rückkehr nicht absehbar ist, wächst in der Bevölkerung der Aufnahmeländer der Unmut über die Syrer, die als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt gesehen werden. Gerade Libanon macht Druck auf die Syrer, in ihre Heimat zurückzukehren. Laut Menschenrechtlern drohen ihnen dort jedoch Inhaftierung, Folter und Hunger.
In Syrien selbst leben Millionen von Binnenflüchtlingen. Viele von ihnen wurden durch frühere Offensiven vertrieben. In Idlib drängen sich Hunderttausende in riesigen Lagern an der geschlossenen türkischen Grenze. Die Flüchtlinge erhoffen sich dort mehr Schutz, doch sind viele von ihnen gezwungen, in Zelten auszuharren. Im Fall einer neuen Offensive des Regimes könnten Hunderttausende weitere zur Flucht gezwungen werden. Durch das Coronavirus hat sich die ohnehin schwierige medizinische Lage noch weiter verschärft.
Die Friedensverhandlungen unter der Ägide der Vereinten Nationen in Genf stecken seit Jahren fest. Parallele Gespräche zwischen der Türkei, Russland und Iran in Astana haben sich auf Schritte zur Deeskalation beschränkt. Ein Ausschuss zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist zwar nach jahrelangem Streit zusammengetreten, doch bisher nicht über die Klärung prozeduraler Fragen hinausgekommen. Auch glaubt niemand, dass Asad zu echten Zugeständnissen bereit ist, nachdem er den Konflikt praktisch für sich entschieden hat.
Der Dachverband der syrischen Opposition in der Türkei hat kaum noch Einfluss. Ihr Ziel eines Regimewechsels in Damaskus erscheint heute unerreichbar. Trotzdem bleibt die Lage in Syrien instabil. Asad hat keine Lösung für die gravierenden humanitären und wirtschaftlichen Probleme des Landes und bleibt auf die Unterstützung Russlands und Irans angewiesen. Nur die Präsenz der russischen Truppen in Syrien garantiert, dass das Kräfteverhältnis nicht kippt und der Konflikt an verschiedenen Fronten wieder aufflammt.