Ausgabe September 2020

Die neue Protestwelle oder: Wer gehört zum Wir?

Aufräumarbeiten nach Randale in der Stuttgarter Innenstadt. Rund 500 Menschen haben sich in der Nacht zum Sonntag zusammengerottet, Schaufenster zerstört und geplündert. Schwerpunkte waren die Marienstraße und die Fußgängerzone Königsstraße. // 20.06.2020, Stuttgart

Bild: imago images / Arnulf Hettrich

Vor jetzt fünf Jahren, am 5. September 2015, setzte in Ungarn mit dem Marsch der Tausenden auf der Autobahn Richtung Deutschland die große Fluchtbewegung aus Syrien und den Anrainerstaaten in die Bundesrepublik ein. Was innenpolitisch folgte, war der Aufstieg der AfD und der Absturz der Kanzlerin; aus „Mutti“ wurde die „Volksverräterin“. Heute ist Merkel wieder die mit Abstand beliebteste deutsche Politikerin, steht die Union wieder bei ihren Werten von vor der Krise, mit klarem Vorsprung vor der Konkurrenz. Und die AfD ist auf dem besten Wege, sich selbst zu zerlegen. Also alles wieder „in Ordnung“, alles wie vor der großen Flucht, dank Corona als dem großen gamechanger?

Keineswegs. Der Diskurs in Deutschland ist nachhaltig vergiftet, das haben die vergangenen Monate eindrucksvoll bewiesen, in denen wir erneut eine große Debatte über Gewalt von Migranten erlebten.

Drei spezifische Ausprägungen von Protest und Aufruhr prägten diesen heißen Sommer: die Hygienedemos „besorgter Bürger“, vulgo: Coronaleugner, gegen die Regierungspolitik,[1] die Antirassismusproteste nach der Ermordung von George Floyd in den USA und die diversen Ausschreitungen feiernder Jugendlicher gegen die Polizei.

Vor allem die spontanen Krawalle auf dem Stuttgarter Schlossplatz und auf dem Opernplatz in Frankfurt am Main wurden umgehend zu einem Problem der Migranten, ja sogar der Flüchtlinge erklärt. Dabei hatte selbst die Stuttgarter Polizei die dortige „Party- und Event-Szene“ für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. Offensichtlich hatte sich bei denen, die wegen Corona schon länger nicht mehr feiern konnten, der angestaute Frust auf die Obrigkeit entladen. Beobachter und Experten kamen zu dem Schluss, dass es sich bei den hauptsächlich männlichen Tätern, in der Regel Jugendliche oder junge Erwachsene, etwa um ein Drittel sogenannte Biodeutsche, ein Drittel Deutsche mit Migrationshintergrund und ein Drittel Geflüchtete gehandelt habe.[2]

Dennoch wurde die Debatte in Richtung der Flüchtlinge kanalisiert, insbesondere durch einen parteiübergreifenden offenen Brief der süddeutschen Bürgermeister Richard Arnold (Schorndorf), Matthias Klopfer (Schwäbisch Gmünd) und Boris Palmer (Tübingen).[3] Obwohl die Autoren darin zu Recht feststellen, dass „zweifelsohne [...] die Mehrheit der Krawallbrüder in Stuttgart keine Geflüchteten waren“, richtete sich das Hauptaugenmerk ihrer Intervention fast ausschließlich auf die jungen Flüchtlinge.

Hier manifestiert sich ein fatales Erbe. Bereits 2018, und ausgerechnet nach den rechtsradikalen Ausschreitungen von Chemnitz, hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer die Migration als die „Mutter aller Probleme“ bezeichnet. Eine ungeheure Aussage (genau wie Seehofers Unwort von der „Herrschaft des Unrechts“), weil sie Ursache und Wirkung radikal verkehrt. Nicht die Migration ist das ursächliche Problem, sondern es sind die Umstände, die – wie in Syrien – die Menschen zur Migration zwingen. Doch indem die Migration als solche angeprangert wird, werden faktisch sämtliche Migranten stigmatisiert und völlig undifferenziert zum Problem erklärt.

»Echte« oder »unechte« Deutsche?

Diese Abwertung wendet sich auch gegen die zweite an den Protesten beteiligte Gruppe, die sogenannten Deutschen mit Migrationshintergrund. Bereits die landläufige, inzwischen fast schon eingebürgerte Unterscheidung zwischen angeblichen „Biodeutschen“ und Deutschen mit Migrationshintergrund ist hoch gefährlich, da sie den Eindruck erweckt bzw. verfestigt, wir hätten es (immer noch) mit zwei Sorten von Deutschen zu tun – eben „biologisch echten“ (um nicht zu sagen „reinen“) und „unechten“ Deutschen, als Bürgern zweiter Klasse. Wie gefährlich eine derartige Deklassierung ist, sollte eigentlich bereits die Mordserie des NSU gezeigt haben, aber auch – für all jene, die diese bereits vergessen haben – die tödlichen Schüsse von Hanau im Februar dieses Jahres mit insgesamt zehn Opfern – außer der Mutter des Täters alles Menschen mit Migrationshintergrund, die eben gerade deshalb zu Mordopfern wurden.

Das aber verweist auf ein fundamentales Problem im innerdeutschen Vereinigungsprozess: Drei Jahrzehnte lang wurde der gesamte Einheitsdiskurs primär als eine Debatte zwischen West- und Ost-Deutschen geführt.[4] Und fatalerweise hat die Dominanz der Pegida- und AfD-Debatte der vergangenen fünf Jahre unter ihrem Leitmotiv „Integriert doch erst mal uns“ (Petra Köpping) diese Fokussierung auf die „biodeutschen“ Bürger noch zusätzlich verstärkt.

Wer dagegen bis heute keine adäquate Stimme im öffentlichen Einheitsdiskurs hat, sind die Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte, die in der 75jährigen bundesrepublikanischen Geschichte längst zu Deutschen geworden sind. Auch mangels eigener Lobby kommen sie in der Debatte kaum vor. Dabei ist der Migrationshintergrund in weiten Teilen Deutschlands längst der Normalfall. Laut der jüngsten Erhebung des Statistischen Bundesamts hatten im vergangenen Jahr gut 21 Millionen Menschen und somit 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.[5] Speziell in Großstädten liegt der Anteil gerade bei der jüngeren Generation sogar deutlich über 40 Prozent. Die meisten von ihnen sind gut integriert und tragen mit ihrer Arbeit zum Wohlstand des Landes bei. Migration und ihre Folgen sind hier also nicht das Problem, sondern die Realität – aber leider immer noch keine Normalität in den öffentlichen Debatten.

Dreißig Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit brauchen wir offensichtlich eine grundlegende Verständigung über die Frage, wer heute mit dem „Wir sind das Volk“ gemeint ist.

Probeabo April
 

Eine solche Debatte müsste aber schon bei den Begriffen ansetzen – und bei der folgenreichen Einteilung in Bio- und sonstige Deutsche. „Betroffenheit reicht längst nicht mehr“, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble nach den Anschlägen von Hanau. Gefordert sei in erster Linie „Aufrichtigkeit“. Das aber würde bedeuten, zuerst einmal anzuerkennen, dass wir es heute mit einer völlig anderen Gesellschaft als vor 75 oder auch noch vor 30 Jahren zu tun haben – und dass wir eine gänzlich andere Antwort auf die aktuellen Probleme geben müssen als „Die Migration ist schuld“.

Woher kommt die Gewalt?

Eine Funktion erfüllt „der Migrant“ als Sündenbock nämlich allemal. Er exkulpiert die Mehrheitsgesellschaft – und erspart ihr die eigentliche, schmerzhafte Frage: Woher kommt die Gewalt, die sich heute regelmäßig gegen die Polizei entlädt?

So richtig es daher ist, auch nach den familiären Hintergründen der Krawallmacher zu fragen – mit Stammbaumforschung den Migrationshintergrund noch in der dritten Generation zu suchen und auszuleuchten, wird der Sache nicht gerecht. Allein die Herkunft gibt noch keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Gewalt.

Zu einfach ist es allerdings auch, die teils massive Gewalt gegen die Polizei – und damit auch implizit gegen das Gewaltmonopol des Staates – einfach als unpolitisch abzutun. Denn faktisch haben wir es hier mit einem spiegelbildlichen Phänomen zu tun: Ähnlich wie mit „der Migrant“ wird hier ebenfalls ein Kollektivsingular – „die Polizei“ – zum Sündenbock für das eigentlich Kritisierte gemacht.

Allerdings stammt das infame Kürzel ACAB – „All cops are bastards“ – in aller Regel gerade nicht von Flüchtlingen. Von diesen wird der deutsche Staat aufgrund ganz anderer eigener Gewalterfahrungen in den Herkunftsstaaten oft eher als zu schwach empfunden, weshalb sie die Polizei in Teilen nicht ernst nehmen. Die jüngste Popularität des gerade in Antifa-Kreisen gängigen ACAB rührt dagegen eher aus der völlig unverhältnismäßigen Gleichsetzung der deutschen mit der US-amerikanischen Polizei, speziell nach der Ermordung von George Floyd.

Was den Protest von Deutschen mit Migrationshintergrund anbelangt, gilt es zugleich jedoch etwas anderes anzuerkennen – dass nämlich weiße und schwarze, genauer: nicht-weiße Deutsche höchst unterschiedliche Erfahrungen mit der Polizei machen. Wenn daher etwa Markus Söder im ZDF-Sommerinterview pauschal erklärt, „Polizisten sind in Deutschland die Guten“,[6] dann bringt dieser Persilschein für die Ordnungshüter gleich dreierlei zum Ausdruck: erstens reinen Populismus, weil der CSU-Chef ganz genau um die enorme Zustimmung der Bevölkerung zur Polizei weiß, gerade angesichts der massiven Randale.

Zweitens aber widerspricht die Aussage den Erkenntnissen der zurückliegenden Wochen, wonach allein innerhalb der hessischen Polizei mehr als 70 Verdachtsfälle auf Rechtsextremismus in den vergangenen Jahren ermittelt wurden.[7] Und drittens geht sie an der Erfahrung vieler Menschen mit Migrationsgeschichte fundamental vorbei, die Polizisten keinesfalls nur als „die Guten“ erleben.[8]

Doch so wie von Geflüchteten genauso wie von allen Deutschen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, erwartet werden kann, dass sie das staatliche Gewaltmonopol akzeptieren, so kann auch von „Biodeutschen“ erwartet werden, dass sie endlich zur Kenntnis nehmen, dass People of Colour zum Teil ganz anders von Polizeigewalt betroffen sind als sie selbst. Denn ohne Respekt vor der Lebensrealität von Menschen mit Migrationshintergrund werden wir deren Respekt vor dem Rechtsstaat nicht befördern.

Zu Recht wurde in der Gewaltdebatte auf Parallelen zu den Halbstarkenprotesten der 1950er Jahre hingewiesen. Erstens haben wir es in beiden Fällen mit jugendlicher und männlicher Gewalt zu tun. Und genau wie heute handelte es sich auch damals um einen Kampf um Anerkennung. Stärker noch als für die berühmten Schwabinger Krawalle von 1962, die teilweise schon ein Protest aus studentischem Überdruss an den „bürgerlichen Verhältnissen“ und damit ein Vorschein von ‘68 waren, gilt dies für die Ausschreitungen der 1950er Jahre. Die seither eindeutig negativ konnotierten Halbstarken entstammten vor allem der Arbeiterklasse, die weder über hinreichend Wohnraum noch über einschlägige „Locations“ verfügte, weshalb sich das private Leben der Heranwachsenden stark im öffentlichen Raum abspielte. Doch aus der damaligen „marginalisierten Generation“[9] wurden anschließend, wenn nicht gleich Verfassungspatrioten, so doch mit Sicherheit durchaus rechtschaffene Bürger, Familienväter und Steuerzahler.

Das Kombi-Abo der »Blätter«

Hier zeigt sich: Ein Rechtsstaat genießt nur so viel Anerkennung, wie er tatsächlich Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt stiftet – und vor allem die Chance zu sozialem Aufstieg. Genau das leistete die Bundesrepublik in bemerkenswerter Weise nach 1945. Nach 1989 gelang dies auf den Osten bezogen schon weniger, und heute stehen wir vor der dritten und vielleicht größten Herausforderung – der Integration all jener, die nicht familiär seit Generationen zu Deutschland gehören.

Genau hier liegt heute das Problem: Solange Deutsche mit Migrationshintergrund nicht über vergleichbare Chancen wie „Bio-Deutsche“ verfügen, wird auch ihre Zustimmung zu diesem Staat nicht dieselbe sein.

Dieser Kampf um Anerkennung hat jedoch nicht nur eine materielle Seite, sondern auch – und vielleicht wichtiger noch – eine immaterielle, demokratische. Wie weit Deutschland an dieser Stelle noch immer zurück liegt und in seinem „biodeutschen“ Selbstverständnis befangen ist, demonstriert die Tatsache, dass eine schwarze Vizekanzlerin wie Kamala Harris bei uns wohl noch immer undenkbar wäre; von einem schwarzen (oder auch türkischen) Kanzler wie Barack Obama ganz zu schweigen. Um diesem Zustand endlich Abhilfe zu schaffen, muss man nicht einmal, euphemistisch aufgeladen, von einer multikulturellen Gesellschaft sprechen. Im Gegenteil: Es geht heute gerade nicht um die Förderung der Multikulturalität als einer Gesellschaft der unterschiedlichen, im schlimmsten Fall identitär abgeschotteten Kulturen, sondern vielmehr um die Anerkennung eines universalistischen Erbes: Jeder Mensch, egal welcher Abstammung und Herkunft, muss als Bürger dieses Landes alle demokratischen Möglichkeiten in Anspruch nehmen können.

Der ehemalige Migrant oder Flüchtling verkörpert aber noch einen weiteren universalistischen Anspruch: nämlich das „Recht [eines jeden], Rechte zu haben“ (Hannah Arendt) – auch das Recht, nicht aus seiner Heimat vertrieben zu werden. Der Migrant als Bote der globalen Verheerungen reißt uns damit aus unserem lieb gewonnenen nationalen Biedermeier und konfrontiert uns mit den globalen Realitäten. Denn er macht deutlich, dass die Probleme der Welt, ob Kriege oder Klimakrisen, längst auch unsere, ja sogar die von uns erzeugten Probleme sind. Dieser Ausbruch aus unserer alten, „biodeutschen“ Übersichtlichkeit ist zweifellos ungemütlich; und vielleicht ist das ja der eigentliche Grund, warum sich viele „den Migranten“ und seinen oft brutalen Überlebenshintergrund bis heute am liebsten vom Leibe halten – weil er uns nämlich mit unserer wirklichen Verantwortung konfrontiert, die weit über nationale Befindlichkeiten und Identitätsfragen hinausgeht. Sich dieser Verantwortung zu stellen, verlangt daher auch, die längst real existierende deutsche Diversität endlich auch politisch anzuerkennen und in den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wie in der Öffentlichkeit angemessen zu repräsentieren.

[1] Vgl. Albrecht von Lucke, Widerstand 2020: Wer reitet die Corona-Welle, in: „Blätter“, 6/2020, S. 5-8.

[2] Siehe etwa Rüdiger Soldt, Die Zerstörungswut einer Partymeute, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 21.6.2020.

[3] Im Wortlaut dokumentiert u.a. in der Rhein-Neckar-Zeitung, www.rnz.de, 21.7.2020.

[4] Zur kritischen Historisierung des Einheitsprozesses siehe auch den Beitrag von Jürgen Habermas in dieser Ausgabe.

[5] Vgl. die Pressemitteilung vom 28. Juli 2020 unter www.destatis.de.

[6] Vgl. www.zdf.de, 19.7.2020.

[7] Vgl. Matthias Bartsch, „Das ist so widerwärtig, da dreht sich einem der Magen um“, www.spiegel.de, 29.7.2020.

[8] Vgl. dazu Marvin Oppong, Ganz normal in Deutschland: Rassismus in der Polizei, in: „Blätter“, 7/2020, S. 89-96.

[9] David Bebnowski, Generation und Geltung: Von den „45ern“ zur „Generation Praktikum“ , Bielefeld 2012, S. 58.

Aktuelle Ausgabe April 2024

In der April-Ausgabe erklärt Bernd Ladwig den israelbezogenen Antisemitismus an den Universitäten mit dem Bedürfnis nach moralischer Eindeutigkeit. Jürgen Trittin plädiert für mehr Sachlichkeit in der Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Simone Schlindwein erinnert an den Völkermord an den Tutsi in Ruanda vor 30 Jahren und seine erschreckende Aktualität. Ramachandra Guha zeigt auf, wie Narendra Modi Indien in ein Hindu-Reich verwandelt und dabei Demokratie und Pluralismus untergräbt. Frederico Füllgraf warnt vor dem großen Einfluss rechtsextremer Verschwörer im brasilianischen Militär und dessen Folgen für Lulas dritte Präsidentschaft. Und Tim Engartner und Michael Schedelik erklären, warum der Boom der Privatschulen keinen Ausweg aus der bildungspolitischen Misere hierzulande bietet.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Tradition und Neugierde

von Carl Wilhelm Macke

Wer Anfang der 1970er Jahre in Hannover studierte und mit dem vorgefundenen Zustand der Welt irgendwie nicht einverstanden war, kam am theoretischen Epizentrum der lokalen Studentenszene nicht vorbei: der Fakultät V in der Wunstorfer Straße. Dort waren die Studierenden ihrem eigenen politischen Selbstverständnis nach entweder links oder noch weiter links.

Gegen das Untergangsdenken

von Christian Jakob

Vier Monate bevor sie vor jetzt fünf Jahren, am 20. August 2018, ihren berühmten „Schulstreik für das Klima“ startete, hatte Greta Thunberg getwittert: „Ein führender Klimawissenschaftler warnt, dass der Klimawandel die gesamte Menschheit auslöschen wird, wenn wir in den nächsten fünf Jahren nicht aufhören, fossile Brennstoffe zu nutzen.“