Für die Salafisten ist er ein Rockstar, für die Ermittler der Kopf der Winterthurer IS-Filiale. Wer ist Sandro V. wirklich?

Ein junger Mann reist nach Syrien, chattet mit radikalen Predigern und gründet eine Kampfsportschule, aus der mehrere Mitglieder in den Jihad reisen. Wie sich in Winterthur ein IS-Netzwerk etabliert hat.

Georg Häsler Sansano, Fabian Baumgartner, Florian Schoop (Text), Anja Lemcke (Illustrationen)
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Über Winterthur kursieren viele Vorurteile – Schlafstadt, Steuerhölle und seit einigen Jahren auch Islamisten-Hochburg. Von hier aus reisten verführte Jugendliche als vermeintliche Gotteskämpfer nach Syrien, ins Kriegsgebiet, zum Islamischen Staat. Nicht wenige von ihnen finden dort nicht das erhoffte schöne Leben, sondern den Tod.

Über die Jahre entstand in Winterthur eine IS-Filiale, ein loses Netzwerk aus radikalen Salafisten, das keine klaren Hierarchien kennt, sondern über persönliche Beziehungen funktioniert. Statt Befehlsempfänger gibt es dynamische Abhängigkeiten, statt klarer Kommandostruktur herrscht ein Netz aus Gleichgesinnten und solchen, die es werden wollen – IS-Sympathisanten, die sich gegenseitig befeuern und sich von den kruden Ideologien ihrer Einflüsterer einlullen lassen.

Das Netzwerk der Islamisten

Das Netzwerk der Islamisten

Lange suchen die Ermittler die Schlüsselfigur in diesem Geflecht. Nun glauben sie, sie gefunden zu haben: Es ist Sandro V. Über Jahre fällt sein Name immer wieder im Zusammenhang mit der Islamistenszene.

Vier Jahre nach seiner Verhaftung wird ihm nun der Prozess gemacht. Am Montag muss Sandro V. vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona erscheinen, zusammen mit einem zweiten Beschuldigten. Die Bundesanwaltschaft wirft Sandro V. vor, sich einer Kampftruppe mit IS-Verbindungen angeschlossen zu haben, beschuldigt ihn, mehrere Personen rekrutiert zu haben, um es ihm gleichzutun. Er selbst bestreitet alle Vorwürfe. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.

Dies ist eine Geschichte von Verführten, die den Schalmeienklängen bärtiger Verführer erlegen sind. Es ist zugleich die Geschichte eines konvertierten Muslims und Kleinkriminellen, der als Rückkehrer zu einer Autorität wurde. Und es ist die Geschichte von radikalen Predigern aus dem Ausland, die solche Verbindungen als dankbares Geschenk für die Verbreitung ihrer hasserfüllten Ideologie annahmen.

Die Verführten

Es sind Schicksale wie jenes von Hajan D., die hinter dem Phänomen der Winterthurer Jihad-Reisenden stehen. Am Morgen des 7. Septembers 2014 besteigt der junge Mann eine Maschine der Turkish Airlines. Er wird nie wieder zurückkehren. Nicht einmal ein halbes Jahr dauert sein Aufenthalt beim IS. Im Januar 2015 lässt er mutmasslich bei einem Angriff auf die syrische Stadt Kobane sein Leben.

Hajan ist einer der Verführten, die sich von Winterthur her aufmachen, um nach Syrien zu reisen. Mehrere tun es ihm gleich. Viele von ihnen sind noch keine zwanzig, die meisten haben einen Migrationshintergrund. Es sind zahlreiche Schritte, die zu ihrer fatalen Entscheidung führen. Doch der Weg dahin ist immer ähnlich.

Die Verführten gelangen in den Kreis der fanatischen Winterthurer Islamisten, suchen in deren Ideologie Halt, vielleicht auch Geborgenheit. Bald schon werden sie eingebunden in Aktionen wie «Lies!», stehen mit Stapeln von Koranen in Fussgängerzonen und weibeln für ihren Glauben – oder wie sie es nennen: für «die wahre Religion». Oder sie trainieren im MMA Sunna, einem Kampfsportstudio, geführt nach muslimischen Regeln. Ohne Musik. Ohne Frauen.

Der Mann hinter diesen Projekten ist Sandro V. Wie wichtig die beiden Treffpunkte mutmasslich sind, geht aus der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft hervor. Für die Ermittler fungierte der Winterthurer damit quasi als Jihad-Reiseleiter. Fünf junge Männer soll er rekrutiert haben.

Zu ihnen zählt auch Hajan. Der junge Mann durchläuft die typischen Stationen einer Radikalisierung: Teilnahme am Projekt «Lies!», Kampfsportschule MMA Sunna, IS-Glorifizierung. Vor der Reise rasiert er sich zu Tarnzwecken den Bart ab, bespricht mit Sandro V. seinen Wunsch, in Syrien zu heiraten – eine Glaubensschwester, die sich bereits dem Islamischen Staat angeschlossen hat. Sandro V. soll daraufhin mit der Frau Kontakt aufgenommen haben – um ihr anzukündigen, dass «bald ein Bruder» komme.

Nicht immer scheint Hajan so entscheidungsfreudig gewesen sein wie im Spätsommer 2014 vor seiner Jihad-Reise. Das zeigt ein Chat-Protokoll zwischen ihm und Sandro V. Nachdem dieser ein Video mit einer Lobpreisung Usama bin Ladins gepostet hat, schreibt Hajan:

«Was schicksch du so Sache bi Whatsapp, hahaha.»

Sandro: «Hesch Angst wie früener.»

Hajan: «Akhi (mein Bruder), mir reded mal mit Shaikh Selman (Imam von Embrach) über das.»

Sandro: «Angst. Hajan, der wo Angst hett.»

Hajan: «Guete Titel. Möge Allah vo mir öppis Besseres halte als en Angsthas.»

Sandro: «Nei, ich sege dir: HAJAN DER FURCHTLOSE.»

Zu den Verführten gehörte auch ein Prominenter: Valdet Gashi, der zweifache Thaibox-Weltmeister aus Singen. Auch er gerät über «Lies!» in den Kreis der radikalen Islamisten. Auf Youtube macht er Werbung für das Projekt, rät «jedem Bruder, da mitzumachen». Seine Frau sagt später gegenüber den Ermittlern, mit Sandro V. habe alles angefangen. Gashi habe sich verändert, sich islamisch gekleidet, sei verschwiegener geworden.

Gashi selbst soll Sandro V. ehrerbietig als Emir bezeichnet haben. Der Thaiboxer lässt sich von ihm ins Projekt MMA Sunna einspannen. Im gesichtslosen Gym, umgeben von grossen Lebensmittelgeschäften und Baumärkten, trainiert er Kampfsport «nach den Regeln der Scharia», wie er selbst sagt. Einige der jungen Männer fühlen sich schliesslich bereit für den Ernstfall. Sie reisen noch vor ihm nach Syrien.

Im November 2014 ist dann auch Valdet Gashi so weit. Laut eigenen Angaben geht der Thaibox-Weltmeister nicht einmal eine Woche nach der Geburt seiner zweiten Tochter ins Kriegsgebiet – unter dem Kampfnamen Abu Mikail Al Kosovi. Es ist nicht sein erster Aufenthalt in Syrien. Bereits ein Jahr zuvor war er dort, angeblich für ein Hilfsprojekt. Nun aber will er beim IS «den Menschen helfen».

Gegenüber dem Schweizer Fernsehen sagte Gashi: «Das Blut von meinen muslimischen Brüdern und Schwestern ist genauso viel wert wie mein eigenes. Wie also kann ich in Ruhe mit meiner Familie leben und meine Geschwister dort ignorieren?» In Syrien trifft er auf zwei seiner Schützlinge aus dem MMA Sunna. Auf seinem Facebook-Account veröffentlicht er ein Bild, das zeigt, wie einer seiner Thaibox-Schüler den abgetrennten Kopf eines hingerichteten Mannes in die Kamera hält. Gut ein halbes Jahr nach seiner Abreise stirbt Gashi im Kriegsgebiet, angeblich bei einem Luftangriff der US-Streitkräfte.

Etwas anders ergeht es Vedad*. Er ist gerade einmal 16, als er Ende 2014 sein Zuhause in einem Winterthurer Aussenquartier verlässt und gemeinsam mit seiner 15-jährigen Schwester nach Syrien reist. Ein Jahr später kehrt das Geschwisterpaar unter ungeklärten Umständen in die Schweiz zurück. Seither wird Vedad laut Quellen aus dem Sicherheitsbereich genau wie Sandro V. als Rückkehrer in der Szene verehrt.

Vor seiner Abreise trainiert Vedad im MMA Sunna, verteilt Korane – und wird von V. in den Chat «LIES! Emire» aufgenommen. In der geschlossenen Gruppe predigt man laut Anklage die radikalislamische Glaubenslehre des IS. Nach der Abreise des Geschwisterpaars soll V. der Familie laut Aussage ihrer Schwester geraten haben, ihre Kinder «in einem islamischen Staat nach islamischen Regeln» leben zu lassen. Er schickt ihnen einen Link zu einem Artikel, der Köpfungen als Teil der islamischen Religion rechtfertigt.

Die Anklageschrift rechnet auch den Arboner Alperen A. dem Dunstkreis von Sandro V. zu. Tatsächlich reiste er Ende 2013 nach Syrien, schloss sich aber zuerst der Jund al-Aqsa an. Erst später soll er zum IS gewechselt haben. Unsere Recherchen zeigen, dass er tatsächlich Kontakte zur Winterthurer Szene pflegte, aber möglicherweise vor allem die Verbindung zwischen Süddeutschland und der Ostschweiz aufbaute. Heute ist der schweizerisch-türkische Doppelbürger Alperen A. in der Türkei inhaftiert. Er könnte dieses Jahr freigelassen werden.

Leitwolf oder Angeber?

Zwei Tote, ein Rückkehrer, einer im Gefängnis und ein junger Mann, bei dem die Spur im Sand verläuft: Ist das die Bilanz von Sandro V., dem Leitwolf der Winterthurer Islamistenszene? Oder ist er bloss ein Angeber mit guten Kontakten zu radikalen Predigern, ein religiös Verblendeter wie die Männer, die in den Jihad reisten?

Für die Bundesanwaltschaft ist der Fall klar. In ihrer Anklageschrift schreibt sie, dass Sandro V. als salafistische Leitfigur in der Schweiz gewirkt habe und «eine Intermediärstellung innehatte» zu radikalen Geistlichen im Ausland. Sie stützt sich dabei auf die Auswertung von Telefonaten, Chats, Bildern und Videos sowie auf Zeugenaussagen.

Sandro V. selbst aber bestreitet diese Darstellung vehement. Sein Anwalt wird deshalb vor Bundesstrafgericht einen umfassenden Freispruch verlangen.

Wie der Winterthurer sich radikalisiert hat, ist bis heute nicht ganz klar. Frühere Bekannte beschreiben ihn als jungen Kerl mit einem Faible für Autos, als einen, der viel kiffte und einen Kampfhund hielt, den er über alles liebte. Er soll stolz gewesen sein auf seine italienische Herkunft und die katholische Religion. Sie erzählen von einem Mann, der einnehmend sein konnte, gut aussah, zugleich aber immer rastlos gewirkt habe.

Ende der nuller Jahre veränderte sich Sandro V. jedoch. Er verbrachte viel Zeit mit Kollegen, von denen gemunkelt wird, sie seien radikale Muslime. Schliesslich konvertierte er. Laut Bekannten beginnt er damals streng nach islamischen Vorgaben zu leben, lernt Koransuren auswendig und rezitiert arabische Floskeln.

Was trotz radikaler Ideologie bleibt, ist seine Liebe zu schnellen Autos. Immer wieder stellt Sandro V. Kurzfilme von seinen Spritztouren mit Luxuswagen auf sein mittlerweile gelöschtes Facebook-Profil. Dazwischen finden sich Koranzitate und allerhand Wirres zum Thema Islam.

Klar ist: Zu diesem Zeitpunkt steht er bereits in Kontakt mit mehreren radikalen Geistlichen im Ausland.

Mitte November 2013 reist V. schliesslich nach Istanbul und von dort mit einem Geländewagen ins Krisengebiet nach Syrien. In der Ortschaft Hraytan hat er sich laut Anklage zusammen mit dem deutschen Prediger Izzudin Jakupovic und einem weiteren Mann der Kampftruppe Jaish al-Muhajirin wa-I-Ansar (Jamwa) angeschlossen. Diese soll gemäss Bundesanwaltschaft einer Vorgängerorganisation der Terrormiliz Islamischer Staat die Treue geschworen haben.

Der Beschuldigte selbst beteuert später gegenüber den Ermittlern, er habe sich bei den gemässigteren Rebellen der Freien Syrischen Armee und nicht im Gebiet des IS aufgehalten. Er bestreitet zudem, an Kampfhandlungen teilgenommen zu haben. Er habe lediglich Hilfsgüter verteilt.

Fotos, welche die Bundesanwaltschaft sichergestellt hat, zeigen allerdings einen anderen Sandro V. Einen in militärischen Kleidern, schwer bewaffnet und in Kampfpose. Auch Auswertungen von Chat-Protokollen und Aussagen einer Ex-Freundin aus Deutschland belasten ihn. Er habe nach Syrien gehen wollen, um dort zu kämpfen, sagt sie aus. Auch seine in der Schweiz gebliebene Ehefrau schreibt einer Bekannten: «Er ist gar nicht Hilfsorganisation.» Und: «Morgen fangen sie mit dem Training an, mein Mann auch.»

Nach knapp einem Monat in Syrien macht sich Sandro V. am 9. Dezember 2013 auf den Weg zurück in die Schweiz. Er bleibt unbehelligt. Doch etwas hat sich geändert: Dank seinem Status als «Rückkehrer» gewinnt er in der rasch wachsenden Islamistenszene an Ansehen.

Zusammen mit dem Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi gründet Sandro V. 2014 mit der Kampfsportschule MMA Sunna im Winterthurer Grüze-Quartier einen der wichtigsten Treffpunkte der hiesigen Szene. 2016 wird er schliesslich verhaftet. Es zeigt sich: Der Salafist schlägt sich auch mit kleineren Betrügereien durchs Leben.

Eine Zeugin gibt in einer Befragung der Bundesanwaltschaft im November 2016 zu Protokoll, es habe im Fitnessstudio eine öffentliche Gruppe gegeben sowie eine muslimische. Die muslimischen Kampfsportler hätten für den Islamischen Staat in Syrien trainiert. «Die Mitglieder in dieser Gruppe hatten weder Frauen noch Kinder, sie waren ledig», wird die Frau in einem Beschluss des Bundesstrafgerichts zitiert. Und weiter: «Die Mitglieder sind alle tot. Sie starben durch Bomben in Syrien.»

Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft zeigen, dass Sandro V. in Kontakt mit berüchtigten Hasspredigern wie Bilal Bosnić, Izzudin Jakupovic und Mirsad Omerović alias Abu Tejma stand. Über Letzteren sagte V. in einer Einvernahme der Bundesanwaltschaft: «Abu Tejma ist für mich Ansprechperson für den reinen Monotheismus im Islam gewesen.» Und er fügte an: «Für mich ist er ein Scheich» – ein geistiger Führer.

Sandro V. spricht von «Exklusivkontakten» zu den radikalen Geistlichen. Und mit ihnen steht er in regem Austausch: 1333 Whatsapp-Nachrichten registrieren die Behörden zwischen V. und Omerović, über 2000 sind es gar zwischen ihm und Izzudin Jakupovic. Sie schicken sich gegenseitig Fotos, Audiodateien, Videos und Texte. Mehrfach reist Sandro V. in den Balkan – zu den Männern, die er als religiöse Autoritäten betrachtet.

Sind das nur Gespräche mit einem religiös Verblendeten – ohne weiteren Sinn? Oder haben die Geistlichen Sandro V. Befehle für die Leitung der Jihad-Filiale in Winterthur gegeben? Und: Hat Sandro V. sie in die Tat umgesetzt?

Die Verführer

Mögliche Antworten ergeben sich vielleicht mit einem Schritt zurück, mit dem Blick auf das «bigger picture», auf die grösseren Zusammenhänge – soweit diese überhaupt geklärt sind.

Genau in dem Moment, als Sandro V. seine Syrienreise unternimmt, werden die Karten in der Jihadisten-Szene neu gemischt. Die Kaida, das Terrornetz Usama Bin-Ladins, verliert an Einfluss und Prestige. Die Vorgängerorganisation des IS übernimmt die Führung. Mit schweren Waffensystemen, die sie zuvor von der irakischen und teilweise auch der US-Armee erbeutet hat, überrennt eine neuartige Terrorarmee weite Teile Iraks und Syriens. Ehemalige Offiziere Saddam Husseins haben sich zuvor mit dem jihadistischen Widerstand in Irak zusammengeschlossen und sind allen anderen Organisationen an Schlagkraft haushoch überlegen.

Der IS als Staat und auch seine Kampftruppen waren zwar durchorganisiert. Wer aber nach klaren Strukturen, Hierarchien oder gar Organigrammen über den Kern hinaus sucht, wird enttäuscht. Die Verbindungen ins Ausland blieben genauso verzweigt und dynamisch wie die Winterthurer Szene um das MMA-Trainingscenter von Sandro V. und Valdet Gashi. Dies ist seit je eine der Widersprüchlichkeiten des internationalen Jihadismus: Auf der einen Seite war al-Kaida 2001 in der Lage, mit den bis ins Detail koordinierten Anschlägen von 9/11 eine Zeitenwende herbeizuführen, auf der anderen Seite ranken sich die Triebe scheinbar unkontrolliert durch das weitverzweigte Internet.

Umso mehr schiessen die Spekulationen ins Kraut, wer die Einflüsterer der jungen Nachahmer im Westen sind, woher sie kommen, was sie antreibt. Schnell ist der Balkan im Fokus. Immerhin stammen die meisten Muslime in der Schweiz aus dieser terra incognita – irgendwo kurz vor dem Nahen Osten, so der schnelle Schluss der ersten Analyse.

Doch die wichtigste Spur führt nach Wien, zu einem Einwanderer aus dem Balkan– zu Mirsad Omerović, dem ominösen Abu Tejma, den Sandro V. «seinen Scheich» nannte, seinen Vorgesetzten.

Omerović sitzt heute im Gefängnis. Das Grazer Landesgericht verurteilte ihn 2016 zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe, verhaftet wurde er bereits 2014. Die damalige Anti-Terror-Aktion der österreichischen Polizei schlug Wellen bis in den mehrheitlich muslimischen Süden Serbiens, den Sanđak, von wo Omerovićs Familie stammt. Die Schlagzeile über seine Verhaftung bleibt die einzige Spur im Internet, die Abu Tejma mit der Heimat seiner Familie verbindet. Einen Jihadisten-Hub im verarmten Süden Serbiens gab und gibt es nicht.

Mirsad Omerović.

Mirsad Omerović.

Dies zeigten unsere eigenen Recherchen im Sanđak schon Ende 2014. Auch wenn in Novi Pazar, der zentralen Stadt der Region, der eine oder andere radikale Imam predigte und der lange Bart des Propheten zum Markenzeichen gewisser Lokalfürsten gehörte, liefen die Fäden nach Syrien über den Westen. Einer der bekanntesten Jihad-Reisenden aus der Region, Eldar Kundaković, kehrte erst nach einem Besuch von Omerovićs Wiener Moschee radikalisiert nach Novi Pazar zurück, so die Erzählung seines Vaters, eines frommen Schneidermeisters, der später in den Moscheen Novi Pazars vor den Verführungen des Jihad warnte. Insgesamt zogen nur rund zehn, maximal zwanzig Jugendliche aus dem Sanđak nach Syrien in den Krieg – offenbar über den Flughafen Pristina im benachbarten Kosovo. Trotz Konflikt arbeiteten serbische und kosovarische Polizeioffiziere bei der Terrorbekämpfung eng zusammen – informell, aber effektiv.

Der Weg über Novi Pazar zurück nach Winterthur lässt ein Muster erkennen, das zu den meisten Jihad-Reisen passt: Ausschlaggebend sind persönliche Kontakte, die in der Zeit der sozialen Netzwerke und der Kurznachrichtendienste wie Telegram auch auf Distanz gepflegt werden können. Es braucht keine toten Briefkästen oder klandestinen Treffen, damit die Rockstars der Szene ihre Fans beeinflussen können. Eldar Kundaković in Novi Pazar war genauso ein Anhänger von Abu Tejma wie Sandro V. in Winterthur. Um an Ansehen zu gewinnen, versuchten beide in ihrem Umfeld die gleiche Masche wie ihr Vorbild anzuwenden: Wer möglichst laut applaudiert, erhält einen jener begehrten Exklusivkontakte.

Über den Werdegang Mirsad Omerovićs, des Idols von Sandro V. und vieler anderer gibt es ausser einem Porträt des österreichischen Magazins «profil» wenig Handfestes. Als 11-Jähriger soll er mit seinen Eltern aus Tutin im Sanđak nach Wien-Favoriten gekommen sein. Kurz nach den Anschlägen von 9/11 reist er zuerst nach Jordanien, um Arabisch zu lernen. Dann, 2002, erhält er laut den Grazer Prozessakten vermutlich ein Stipendium für Medina oder Mekka. Dort kommt Omerović in Kontakt mit wahhabitischen Predigern.

Damit gelangt er in den Dunstkreis der Vordenker eines neuen Kalifats und der Ideologie des späteren IS. Es ist der Beginn einer neuen Phase des internationalen Jihadismus, dessen wüstes Donnern und Gewittern später wie ein Wetterleuchten bis nach Winterthur reichte.

Um das Phänomen zu fassen, braucht es noch einen weiteren Schritt zurück. Die Ursprünge des islamistischen Terrors gehen zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als die Sowjetunion an Weihnachten 1979 in Afghanistan einmarschiert ist. Die USA unterstützen im Kampf um die Vorherrschaft in der bipolaren Welt islamische Gotteskrieger. Die Mujahedin werden zu Helden hochstilisiert – ikonenhaft dargestellt etwa in der dritten Folge von Sylvester Stallones «Rambo»-Trilogie. Dem Aufruf zum heiligen Krieg gegen die Sowjets folgen auch Saudis wie Usama bin-Ladin, verfolgte Muslimbrüder aus Ägypten und syrische Islamisten, die vom Asad-Regime brutal unterdrückt wurden.

Es bildet sich ein Knäuel von Exklusivkontakten, das unter dem Namen al-Kaida, arabisch für Netz, bekannt wurde. In den unübersichtlichen Jahren nach dem Kalten Krieg irrlichtern einige der Afghanistan-Veteranen durch die Welt und nehmen an verschiedenen Konflikten auf den Bruchlinien der alten Weltordnung teil. Eine dieser Stationen ist der bosnische Bürgerkrieg. Wieder werden neue Kontakte für später geknüpft – unter anderem zu Husein «Bilal» Bosnić, der in der Geschichte von Sandro V. ebenfalls eine Rolle spielt. Von ihm wird später noch die Rede sein.

Ende der 1990er nisten sich die Top-Jihadisten unter dem Schutz der Taliban-Herrschaft noch einmal in Afghanistan ein. Von dort planen und führen sie 2001 den Anschlag auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington. Die USA unter George W. Bush schlagen zurück, marschieren zuerst in Afghanistan ein und dann, 2003, in Irak. Nach einem Blitzsieg folgen Jahre des Terrors. Die Kaida kommt aus Afghanistan zurück in den Nahen Osten und reisst den Widerstand gegen die US-Truppen an sich. Saddams Schergen treffen auf die Jihad-Profis aus dem Kreis Usama bin-Ladins. Es ist dies die Keimzelle des späteren IS.

Zur gleichen Zeit, laut «profil» 2008, kehrt Mirsad Omerović mit dem geistigen Fundament exakt dieser Kreise zurück nach Wien und startet eine Karriere als Prediger. Selbst in radikalen Wiener Moscheen sind seine Ansichten zunächst zu radikal. Er stellt seine religiösen Reden ins Internet. Abu Tejma, der islamistische Geistliche aus Wien, startet seine internationale Karriere. Er spricht Deutsch und Bosnisch, durchsetzt mit arabischen Fetzen und den Begriffen, die bald zum Vokabular seiner Anhänger werden. Die Welt besteht aus Rechtgeleiteten und «kuffar», Ungläubigen.

So dürfte er auch Sandro V. erreicht haben. Für die österreichische Justiz ist klar, dass Omerović für eine ganze Reihe von Jihad-Reisen verantwortlich ist. Seine Theorien scheinen besonders unter jungen Tschetschenen verfangen zu haben, die nach dem Ende des Bürgerkriegs 1999 in Wien gestrandet sind. Weltweit für Aufsehen sorgte das Verschwinden von zwei Wiener Secondas bosnischer Eltern: Sabina Selimović und Samra Kešinović wurden in der britischen Presse als «poster girls» des IS bezeichnet. Hinter ihrer Reise nach Syrien steckt laut Behörden auch Mirsad Omerović.

Es sind wohl Aussagen wie diese, mit denen er offenbar die Gefühlslage junger Menschen auf der Suche nach ihrer Identität und einem besseren Leben irgendwo anders trifft:

«Unsere Lage kann nicht schlechter sein. Ich meine unsere Lage, da, wo wir leben. Schlechter kann es nicht sein. Aber dort, wo die Mudschaheddin sind (. . .) Wer sich denen anschliessen kann! Es ist besser, dass man sich anschliesst, als dass man hier lebt. Ohne Zweifel.»

Omerović verbindet sich in den Jahren nach 2010 mit dem «Lies!»-Gründer Abu Nagie und tritt nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 regelmässig bei Benefizveranstaltungen auf. Wieder ist ein Muster zu erkennen: Es sind die physischen Kontakte über «Lies!» und Anlässe dieser Art, die sein Netzwerk und seinen Einfluss vergrössern.

Ein Schlüsselmoment für den Schweizer Zweig dieser pseudoreligiösen Schlingpflanze scheint eine solche Benefizveranstaltung in Winterthur-Töss im September 2013 gewesen zu sein. Wer genau dort war, ist nicht restlos geklärt. Abu Tejma stand auf der Gästeliste. Offenbar hat er später mit Valdet Gashi und Sandro V. im MMA Sunna trainiert. Ein Ziel von Abu Tejma war die Mobilisierung der Balkan-Diaspora für seine Sache. Motto: «Ihr seid eigentlich Muslime, aber eure Eltern haben euch nicht den richtigen Islam gelehrt.»

Bilal Bosnić.

Bilal Bosnić.

Deshalb pflegte Omerović auch beste Kontakte zum bosnischen Prediger Husein «Bilal» Bosnić, einem der lautesten Stimmen der Salafisten auf dem Balkan. Als Jugendlicher lebte dieser in Deutschland und kehrte bei Beginn des Krieges 1992 nach Bosnien zurück. Dort trat er einer Einheit ausländischer Mujahedin bei, die aufseiten der Bosniaken gegen die bosnisch-serbische Seite kämpften. Schon damals trafen diese Afghanistan-Veteranen auf wenig Sympathie unter der grossen Mehrheit der bosnischen Muslime, obschon diese im Krieg unter enormem Druck standen und um die Existenz fürchten mussten.

Einige dieser Mujahedin heirateten einheimische Frauen und liessen sich nach dem Friedensabkommen von Dayton im ostbosnischen Dorf Gornja Maoča nieder. Hier lebte auch der Mann, der 2011 ein Attentat auf die US-Botschaft von Sarajevo verübt hatte. Die bosnische Polizei führte deshalb in diesem Dorf mehrfach rigorose Razzien durch, was die Anziehungskraft dieser Salafisten-Kommune wohl umso mehr steigerte – auch für Sandro V. aus Winterthur.

Gemäss Anklageschrift besuchte er eigenen Angaben zufolge den Ort gemeinsam mit Mirsad Omerović. Die beiden sind auf Fotos beim Schächten von Tieren zu sehen. Ein anderes Foto zeigt Sandro V. im Dress des MMA Sunna zusammen mit Bilal Bosnić, aufgenommen auf einer weiteren Bosnienreise des selbsternannten Winterthurer Emirs. Wieder schien er einen Exklusivkontakt mehr zu einem Anführer der Szene erhalten zu haben.

Bosnić selbst trat mehrfach in der Schweiz auf – unter anderem 2012 in einer Moschee in Wallisellen. In der dortigen Gemeinschaft wurden die radikalen Ansichten allerdings nicht goutiert, wie Recherchen im Winter 2015 zeigten. Dennoch haben die Exklusivkontakte von Omerović und Bosnić die Szenen in Süddeutschland und in der Nordostschweiz mit Wien verbunden. In der Anklageschrift tauchen deshalb lauter bekannte Namen auf.

Als Einflüsterer ging Bosnić für Sandro V. aber bereits im September 2014 verloren. Die bosnische Polizei stürmte Gornja Maoča unter dem Codename «Damask» und verhaftete ihn. Seither ist es ruhig geworden um die bosnische Salafisten-Szene. Die totalitäre Idee dieser Form von Religion verfängt auf dem Balkan nicht. Bosnić vermochte wohl einige wenige Irrlichter in der Diaspora zu begeistern, aber nicht die Muslime zwischen Sarajevo und Novi Pazar.

Der IS warb zwar mit eigenen Videos um die Gunst junger Muslime mit Balkan-Hintergrund. Die treibende Musik mit religiösen Gesängen und die Bilder von einem Land am Euphrat, wo Milch und Honig fliessen, reichten nicht. Dazu scheint auch das Netzwerk der verschiedenen Exklusivkontakte zu wenig hierarchisch gewesen zu sein. Mirsad Omerović und Bilal Bosnić sind deshalb nicht Befehlsgeber von Sandro V., sondern seine Vorbilder, allerdings mittlerweile weggesperrte.

Die Radikalen sind vorsichtig geworden

Doch die Ideologie der Extremisten ist damit nicht aus der Welt. Noch immer umfasst die Winterthurer Islamistenszene sechzig Personen, ein Dutzend soll dem harten Kern angehören. Im jüngsten Sicherheitsbericht der Stadt Winterthur heisst es, religiöser Extremismus existiere nach wie vor.

Doch die Radikalen sind vorsichtig geworden. Ihre Treffpunkte ändern sich ständig – mal treffen sie sich in einer Waldhütte, mal in einem Musikkeller, mal in einer Gewerbeliegenschaft. Mittendrin laut gut informierten Quellen: Sandro V. und Vedad. Bei Vedad sind die Behörden Ende Oktober 2019 erneut eingeschritten. Bei einer Operation in mehreren Kantonen werden er und mehrere weitere Islamisten festgenommen. Der Vorwurf: Propaganda für den IS. Erst kürzlich ist der junge Mann aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

*Namen geändert.