Kommentar

Der Druck auf China wächst

Die empfindlich verschlechterten Beziehungen zu den USA und Europa sowie die globale Krise zwingen die chinesische Regierung zu einer neuen Wirtschaftspolitik. Es könnte eine Chance für Reformen sein.

Matthias Kamp 13 Kommentare
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Wenn chinesische Brautleute keinen Aufwand für ihre Heirat scheuen, ist das ganz im Sinne der Regierung, die die Binnenwirtschaft ankurbeln will.

Wenn chinesische Brautleute keinen Aufwand für ihre Heirat scheuen, ist das ganz im Sinne der Regierung, die die Binnenwirtschaft ankurbeln will.

Kevin Frayer / Getty

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping schien sich nie sonderlich für Wirtschaft zu interessieren. Chinas starker Mann studierte in den siebziger Jahren Chemie; Ende der neunziger Jahre hängte er noch ein Postgraduierten-Studium an – in marxistischer Philosophie. Nach seinem Amtsantritt 2013 konzentrierte sich Xi auf die Bekämpfung der Korruption, stellte seine politischen Gegner kalt und brachte Unternehmen, Verbände und Universitäten ideologisch auf Linie. Parteigehorsam war fortan wichtiger als Profite, Forschungserfolge oder exzellente Lernergebnisse. Allerdings betonte Xi im November 2013 an einem Plenum des Zentralkomitees die grosse Bedeutung des Marktes für die Wirtschaft. Chinas Staatschef ist schwer zu fassen.

Jetzt wendet sich Xi auf einmal wieder der Wirtschaft zu, und schuld daran sind wohl auch die China-Politik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump und die Corona-Krise. Das völlig veränderte internationale Gefüge mit amerikanischen Technologie-Boykotten, einem Handelsstreit, schwierigen politischen Beziehungen zu vielen Ländern und einem massiven Nachfrageeinbruch als Folge der Pandemie in Europa und den USA hat in Peking zu der Einsicht geführt, dass Chinas wirtschaftliches Wohlergehen ein Stück weit weniger abhängig von Entwicklungen im Ausland werden soll.

Xis Berater tüfteln unentwegt

Unter dem etwas sperrigen Begriff «duale Zirkulation» tüfteln Xi und seine Berater, allen voran der als überzeugter Marktwirtschafter bekannte, unter anderem in Harvard ausgebildete Ökonom Liu He, in zahllosen Meetings an einem neuen wirtschaftspolitischen Konzept. Noch ist vieles unklar. Doch im Kern unterscheiden Pekings Planer zwischen einer sogenannten «externen Zirkulation» mit Fokus auf den Aussenhandel, grenzüberschreitende Investitionen und Technologietransfer, und einer «internen Zirkulation» mit den Säulen Binnennachfrage, technologische Autarkie und vor allem privater Konsum. Das Konzept soll Eingang in den 14. Fünfjahresplan finden, den die Regierung demnächst vorstellen will.

Chinas Führung legt grossen Wert auf die Feststellung, dass die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt sich nicht abschotten will. Vielmehr wollen Pekings Wirtschaftsplaner die sogenannte «interne Zirkulation» stärken, um Chinas Wirtschaft, so gut es geht, gegen externe Schocks abzuschirmen und die Abhängigkeit von Technologie aus dem Ausland zu reduzieren. Xi weiss: Die Entkopplung, vor allem die technologische, findet statt. Jetzt geht es ihm darum, so weit wie möglich mitzubestimmen, wie sie stattfindet, und sich an die Spitze der Entwicklung zu setzen.

Auf den ersten Blick ist das jetzt erdachte Konzept nicht neu. Schon im Jahr 2005 gab die Partei unter ihrem damaligen Chef Hu Jintao die Losung aus, fortan sollten nicht mehr so sehr Exporte und öffentliche Investitionen Chinas Wachstum treiben, sondern der private Konsum. In den Folgejahren stieg der Anteil des privaten Verbrauchs an der Wirtschaftsleistung, allerdings nur sehr schleppend. Immerhin verloren über die Jahre die Ausfuhren ihre herausgehobene Bedeutung für die Wirtschaft. Im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre belief sich der Anteil der Nettoexporte am Wirtschaftswachstum auf null. Der Unterschied zu damals: Heute zwingt das veränderte globale Umfeld Peking zum Handeln, der Druck auf die Führung ist enorm. Schliesslich soll China nach den Vorstellungen Xis im Jahr 2049 die führende Industrienation der Welt sein.

In Peking ist eine lebhafte Debatte entbrannt

Inzwischen ist unter den politischen Beratern in Peking eine lebhafte Debatte darüber entbrannt, wie das Konzept mit Leben gefüllt werden soll. Der angesehene Ökonom und frühere Berater der Zentralbank Yu Yongding plädiert dafür, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Chinas Industrie den Heimatmarkt umfassend und weitgehend unabhängig vom Ausland mit Hochtechnologie-Produkten versorgen kann. Das würde wohl eine noch aktivere Industriepolitik mit Fokus auf den Plan «Made in China 2025» erfordern. Danach soll China bis zum Jahr 2025 in zehn High-Tech-Branchen Weltmarktführer werden. Zu den Branchen zählen unter anderem die Medizintechnik, die Luft- und Raumfahrttechnik und die Halbleiterindustrie.

Es gibt in Pekings politischem Betrieb aber auch Stimmen, allen voran der frühere Finanzminister Lou Jiwei, die «Made in China 2025» für reine Geldverschwendung halten. Sie sprechen sich stattdessen dafür aus, Chinas wirtschaftliches Fundament durch marktwirtschaftliche Reformen zu stärken. Wang Yiming, ein ehemaliger Vizepräsident des State Council Development Research Institute, an dem auch Xis Wirtschaftsberater Liu He einen Grossteil seiner Karriere verbracht hat, meint: «Marktorientierte Reformen sind der Schlüssel.»

Und so bietet der durch das radikal veränderte internationale Umfeld erzeugte Druck China eine Chance auf eine strukturelle wirtschaftliche Modernisierung. Die Regierung sollte diese nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ein verbesserter Urheberrechtsschutz etwa könnte einen Anreiz für Forscher schaffen, sich stärker auf die Grundlagenforschung zu konzentrieren; ein fairer Marktzugang könnte Lieferketten stabilisieren und die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Firmen stärken. Die weitere Öffnung des Dienstleistungssektors würde die Inlandsnachfrage, etwa beim Tourismus, beleben. Und durch eine Beschleunigung der Urbanisierung könnte die Zahl der Chinesinnen und Chinesen mit mittlerem Einkommen in den kommenden 15 Jahren auf 800 Millionen steigen, rechnen Experten in Peking vor.

China schöpft das Potenzial der Urbanisierung nicht aus

Um aber das Potenzial einer beschleunigten Urbanisierung mit einem in der Folge steigenden privaten Verbrauch auszuschöpfen, muss die Regierung zunächst ihr veraltetes System der Haushaltsregistrierung, das sogenannte «Hukou»-System, überholen. Wer in China vom Dorf in die Grossstadt zieht, kann sich dort nicht offiziell registrieren lassen und ist somit formal kein Einwohner der Stadt. Das hat Folgen: Der Zugang zu öffentlichen Leistungen ist versperrt; Kinder haben kein Recht auf einen Platz in einer öffentlichen Schule oder einer Kindertagesstätte.

Der Urbanisierungsgrad ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. 61 Prozent aller Chinesinnen und Chinesen leben heute in Städten, geschätzte 230 Millionen von ihnen allerdings ohne einen «Hukou» – mit Folgen für den privaten Verbrauch: Unter dem Strich konsumieren Städter ohne offiziellen Status zwischen 16 und 20 Prozent weniger als diejenigen mit offiziellem Status, zeigen Berechnungen der Jiao Tong University in Schanghai.

Nimmt man dazu das vor allem auf dem Land immer noch rudimentär entwickelte Sozialversicherungssystem, verwundert es nicht, dass China eine der höchsten Sparquoten der Welt hat. Statt mehr Autos, TV-Geräte oder Handys zu kaufen, tragen zu viele Chinesen ihr Geld immer noch auf die Bank.

Dort aber bekommen sie nur mickrige Zinsen. Chinas rigides Zinsregime sorgt unter dem Strich dafür, dass die privaten Sparer die billigen Kredite für die Staatsunternehmen finanzieren. Sicher, die Behörden haben in den vergangenen Jahren einige Anpassungen vorgenommen und etwa die Spannen bei Einlagen- und Kreditzinsen ausgeweitet. Mit dem neuen Technologieboard STAR an der Börse Schanghai hat die Regierung den Menschen neue Möglichkeiten zur Geldanlage eröffnet. Auch das umstrittene «Hukou»-System hat die Regierung in den vergangenen Jahren aufgeweicht – allerdings nur ein kleines Stück. Wer vom Land in eine Stadt mit weniger als einer Million Einwohner zieht, kann sich dort offiziell registrieren. Das Problem: In diese für chinesische Verhältnisse kleinen Städte möchte kaum jemand ziehen.

Zeit für mutige Schritte

Sollte China mit seiner neuen Wirtschaftspolitik, die allerdings bis jetzt nicht viel mehr als eine Ideensammlung ist, erfolgreich sein, hätte dies langfristig Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Verabschiedete sich China von seiner immer noch auf Exporte ausgelegten Politik und würde in wichtigen Branchen autarker, könnte dies zur Folge haben, dass globale Handels- und Investitionsströme neu sortiert würden. Das wiederum hätte Auswirkungen auf das Geschäft westlicher Firmen.

Schon einmal, im Jahr 2015, stiess Xis Wirtschaftsberater Liu He eine Reihe von Reformen an, die dazu führten, dass die durch Subventionen erzeugten Überkapazitäten in der chinesischen Industrie schrumpften und in der Folge die Preise für einige Rohstoffe stiegen. Auch gelang es, die Risiken im Finanzsystem nach den gewaltigen Ausgabenprogrammen 2009 durch einen Kurs der Austerität zumindest ein Stück weit zu reduzieren. Der äussere Druck könnte jetzt für einen neuen Reformschub sorgen – es wäre Zeit für mutige Schritte. Jetzt ist zu hoffen, dass bei Liu Hes Vorgesetztem Xi Jinping nicht wieder der alte Reflex greift: im Zweifel mehr staatliche Kontrolle – und Ideologie.

13 Kommentare
Rolf Baumann

Ich habe meine Zweifel, ob westliche Denkweisen einen konstruktiven Einfluss auf die momentan regierende KP China haben. Die industrielle Zukunft der Menschheit liegt derzeit nun einmal nicht in Europa oder USA sondern in Asien. Die westliche Wirtschaftselite hat sich 1990 von Deng Xiao-Ping seine Sicht der Dinge aufschwatzen lassen. „Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiss ist; solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze“. Der Systemwechsel von der Sozialen Marktwirtschaft zum Neofeudalismus mit ausgelagerter Produktion wurde am 1. Januar 1995 mit den WTO-Globalismusbeschlüssen in Beton gegossen. Erschien damals vielleicht logisch, die Chinesen kann man schliesslich locker unter dem Deckel halten. Heute nun erleben wir die marktwirtschaftliche Selbstverständlichkeit, "there is no free lunch on this planet". Immerhin sollten wir derzeit noch in der Lage sein, ob wir eine harte, oder weiche Landung wollen.

Werner Moser

Der Druck, welcher sich China gibt, um die volkswirtschaftliche Wertschöpfung vermehrt via Konsum im Inneren des Landes zu schöpfen, anstatt die Exportwirtschaft weiter zu forcieren, besteht nicht erst seit der empfindlichen Verschlechterung der bilateralen Beziehungen zu den USA und Europa. Wobei die globale Corona-Krise zweifellos mitgewirkt hat, dass sich China vermehrt mit einer neuen Wirtschaftspolitik umtut. Das Heikle an dieser Situation ist, dass die Milliarden-Bevölkerung sich für die regierende Volkspartei China's zu einer potenziellen Gegenkraft zur Politik entwickelt hat, vor welcher ein enormer Respekt besteht. Seit es einen sich immer mehr entwickelten Mittelstand gibt, welcher durchaus eigene Vorstellungen entwickelt, wie es mit der Wohlstandsverteilung weiter gehen soll. Wenn auch politisch diszipliniert, kommt sofort im Volk eine Unruhe auf, wenn kommerzielle Bequemlichkeiten und Konsum nicht den Vorstellungen der Bevölkerung entspricht. Da hat eine Verwöhnung stattgefunden, welche nicht enttäuscht werden will. Es wird also nicht einfach sein, die vielen importierten Bequemlichkeiten vor Ort neu mit "Made by China" zu ersetzen. Es ist dieser Druck von Innen selbst, welcher den Druck auf China noch stärker beschäftigen wird, als der Streit mit USA/EU. Was auch für die ausländischen Investitionen in China sehr grosse Auswirkungen haben wird. In China zu geschäften wird für die Ausländer noch mehr beides sein: einfacher und schwieriger zugleich. Komplex eben!

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