NZZ Standpunkte

Corona und die Gefahr des Überwachungsstaats: «Das Virus infiziert nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Denken»

Egal wo, wir werden erfasst: im Netz, auf der Strasse, im Restaurant. Corona hat diese Entwicklung beschleunigt. Doch was passiert mit den sensitiven Daten? Der Medienwissenschafter Roberto Simanowski spricht in «NZZ Standpunkte» über die neue Überwachung, Zuckerbergs Floskeln und den nächsten Lockdown.

Yannick Nock 13 Kommentare
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Covid-App, Videokonferenzen, Online-Shopping: Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung einen Schub verliehen. Damit einher gehen Unmengen an persönlichen Daten, die laufend erfasst werden. Doch wie lassen sich diese Informationen schützen? Bewegen wir uns gar Richtung Überwachungsstaat? Der deutsche Literatur- und Medienwissenschafter Roberto Simanowski lehrte in Basel, Hongkong und den USA. Er sieht verschiedene Probleme auf die Gesellschaft zukommen. In der jüngsten Ausgabe von «NZZ Standpunkte» mit dem NZZ-Chefredaktor Eric Gujer und der Politphilosophin Katja Gentinetta spricht Simanowski über Notstand und Selbstverantwortung – und er sagt, wann der Staat die Bürger zwingen kann, die Covid-App zu nutzen.

Zwar böten die neuen Möglichkeiten kommunikative Nähe bei körperlicher Distanz, doch nicht alle könnten die Vorteile nutzen, sagt Simanowski. Schulen und Ämter hinkten hinterher. «Ich wundere mich schon, dass manche Behörden vor der Pandemie noch Faxgeräte benutzt haben.» Anders sieht es bei der Gesetzgebung aus. «Im Grunde passiert die Entwicklung zu schnell, wir kommen mit der Regulierung nicht nach.» Der Drang zur Digitalisierung sei wegen der Pandemie aber gross: «Das Virus infiziert nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Denken.»

Auch über die Vor- und Nachteile der Covid-Apps diskutiert das Trio. Da dank dem Smartphone Bewegungsdaten aufgezeichnet und Infektionsketten aufgezeigt werden können, wäre es laut Simanowski absurd, diese Informationen nicht zu nutzen. Die Frage sei aber immer: Wie anonym läuft das ab? Die Schweiz setzt auf eine Tracing-App, das heisst, sie erhebt Begegnungen, aber nicht persönliche Daten oder den Standort. Asiatische Länder vertrauen hingegen aufs Tracking. Dort erfassen Programme auch persönliche Informationen und überwachen den Aufenthaltsort. Das ermöglicht dem Staat, Bewegungs- und Kontaktprofile seiner Bürger zu erstellen – der Albtraum eines jeden Datenschützers.

Ein freiwilliger Datenstriptease

Gäbe es einen Beweggrund, vom Tracing aufs Tracking zu wechseln, will Gujer von seinem Gast wissen. Falls neben den Infektions- auch die Todeszahlen stark steigen sollten und die verheerenden wirtschaftlichen Konsequenzen eines zweiten und dritten Lockdowns sichtbar würden, dann könnte auch die Schweiz auf Tracking umstellen, sagt der Experte.

Dass einerseits ein mangelnder Datenschutz beklagt wird, gleichzeitig viele Menschen auf Facebook, Instagram und Co. aber einen «Datenstriptease» hinlegen, sieht Simanowski nicht als Widerspruch. Wer sich für Datenschutz einsetze, teile in der Regel weniger sensitive Daten über die sozialen Netzwerke. Den oft gehörten Satz «Ich habe ja nichts zu verbergen» beurteilt der Medienwissenschafter kritisch. Wer das sage, sei entweder ahnungslos oder wenig solidarisch. Ahnungslos, weil viele nicht wüssten, welche Rückschlüsse sich aus scheinbar trivialen Daten ziehen liessen. «Nach 150 Likes kennt Facebook Ihre Persönlichkeit besser als Ihre Eltern.» Ausserdem impliziere die Aussage, dass jeder, der etwas zu verbergen habe, ein schlechter Mensch sei. Doch das sei falsch. Als Beispiel nennt Simanowski die Homosexualität, die früher kaum offen gelebt werden konnte. Deshalb ist für ihn klar: «Die Politik muss beim Datenschutz strenger sein.»

Auf einen moralischen Kodex der Tech-Giganten könne man hingegen nicht zählen. «Facebook reagiert nur, wenn das Unternehmen dazu gezwungen wird», sagt er. «Ansonsten gibt es von Mark Zuckerberg lediglich schöne Worte und Floskeln.» Zufriedene Aktionäre stünden im Zentrum, nicht mündige Bürger. Ausserdem bereiten Simanowski Chinas Ambitionen Sorge. Das Land will bei der künstlichen Intelligenz zur Supermacht aufsteigen. Das sei auch wegen des Datenschutzes beunruhigend: «Wenn das Licht des technischen Fortschritts aus dem Osten kommt, dann wird das Licht der Aufklärung erlöschen.»

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Peter Müller

«Das Virus infiziert nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Denken» Das ist die eigentliche Gefahr für unser Leben nach Corona. Falls es das überhaupt gibt. Denn Corona bleibt uns sicher erhalten. Auch mit Impfung. Und viele der Maßnahmen bleiben uns sicher auch ebenfalls erhalten. Alles natürlich nur zu unserer Sicherheit. Und die Menschen gewöhnen sich an die neue Überwachung. Der Staat greift immer weiter in die Grundrechte ein. Der Staat will "seine" Menschen beschüzten, ob sie es nun wollen oder nicht. Die Regierenden wollen ihre Macht ausbauen. Die persönliche Freiheit soll für das Gemeinwesen geopfert werden. Mit Covid-19 ist ein neues Lebensrisiko dazugekommen. Zu den vielen anderen Risiken, an denen man sterben kann. Wird demnächst das Rauchen ganz verboten, weil es zum Tod führen kann? Werden Übergewichtige angehalten, abzunehmen? Damit das Gesundheitswesen entlastet wird? Der Staat hat in meinen Augen nicht für die Gesundheitsvorsorge des Individuums zu sorgen. Das sollte er jedem selbst überlassen und sich auf seine Grundkompetenzen beschränken.

C. D. J.

Die Coronapolitik befördert die durch die Digitalisierung vorangetriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen auch auf andere Weise in Richtung einer Entfremdung. Sie erschwert weiter den persönlichen Kontakt und das Erleben und dadurch auch die minimale Möglichkeit der Verifizierung von Nachrichten und vermeintlichen Wahrheiten. Deren genaue Urheber sind oft unbekannt. Die Menschen wissen nicht mehr, wer genau ihr Konterpart ist bzw. dieser ist noch weniger greifbar als in der analogen Welt. Die Verlockung nach einfachen Antworten ist groß. Die Entwicklung geht in Richtung einer vertikalen Hörigkeit gegenüber Autoritäten, die als Experten unangreifbar scheinen, statt eine Auseinandersetzung mit dem Nächsten auf gleicher Augenhöhe. Das Vertrauen gegenüber dem Nächsten nimmt aufgrund der übermächtig erscheinenden Bedrohung ab. Der Nächste kann eine Bedrohung sein und es scheint gesellschaftlich geboten diese zu sanktionieren. Die extensive Nutzung von Medien führt zur Gefahr der Abschottung mangels persönlichem Austausch, Ichbezogenheit und teilweise Vereinzelung. Andererseits macht sie durch Ablenkung und die Konzentration aufs Ich durch Belohnungssysteme anfällig für autoritäre Mechanismen.

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