Abdullah A. H. H., ein 20-jähriger Mann aus Syrien, wurde am 20. Oktober in Dresden festgenommen. Er wird verdächtigt, am 4. Oktober in Dresden zwei Touristen mit einem Messer angegriffen zu haben. Ein 55-Jähriger aus Krefeld starb, ein weiterer Mann (53) aus Köln überlebte schwer verletzt. Der Tatverdächtige ist erheblich vorbestraft und als islamistischer Gefährder eingestuft. Schon seit Monaten ist das Violence Prevention Network, spezialisiert auf Extremismusprävention, in Kontakt mit Abdullah A. H. H.. Thomas Mücke, Geschäftsführer der Organisation, berichtet, wie sein Team den Mann erlebt hat.

Thomas Mücke, Geschäftsführer der Organisation Violence Prevention Network © Violence Prevention Network/​Klages

ZEIT ONLINE: Ihre Organisation Violence Prevention Network arbeitet im Bereich der Extremismusprävention – und hatte auch mit dem Tatverdächtigen Abdullah A. H. H. zu tun, der zwei Touristen in Dresden angegriffen haben soll und als islamistischer Gefährder eingestuft ist. Seit wann stehen Sie im Kontakt mit ihm?

Thomas Mücke: Wir bekommen zum Beispiel von Justizbehörden Hinweise, mit solchen Klienten zu arbeiten. Dann versuchen wir mit der Person in Kontakt zu treten. 2018 hatten wir das erste Gespräch mit Abdullah A. H. H, als er in Untersuchungshaft war. Dann gab es eine längere Pause. Anfang 2020 haben wir wieder Kontakt zu ihm gesucht, da war er zuerst nicht bereit, mit uns zu reden. Im Frühjahr 2020 hat sich Abdullah A. H. H schließlich doch bereit erklärt für Gespräche mit uns, wegen der Corona-Situation konnten wir dann aber erst Ende Juni damit beginnen. Danach hatten wir zehn Beratungstermine mit ihm während seiner Zeit im Gefängnis. Dabei ging es darum, zu besprechen, wie sein Weg in den Alltag und auch wie der Kontakt mit ihm nach der Haftentlassung aussehen könnte – alles natürlich auch mit dem Ziel, an seiner Deradikalisierung zu arbeiten.

ZEIT ONLINE: Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?

Mücke: 
Bei uns ist nicht der Eindruck entstanden, dass von dieser Person eine unmittelbare Gefahr ausgeht. Aber wir kannten ja seine Vorgeschichte und wollten ihn deshalb engmaschig begleiten. Uns war immer bewusst, dass er als religiös motivierter Gefährder eingestuft ist. Die Gespräche haben jeweils etwa ein, zwei Stunden gedauert. Eine Schwierigkeit waren anfangs die Sprachkenntnisse. Wir haben zunächst einen Dolmetscher für Arabisch hinzugezogen, weil seine Deutschkenntnisse nicht besonders ausgeprägt waren. Wir haben uns dann aber entschieden, auf Deutsch mit ihm zu kommunizieren, um ihn in der Sprache zu fördern. Er selbst hatte von sich übrigens nicht das Bild, dass er radikalisiert ist. 

ZEIT ONLINE: Abdullah A. H. H. war erheblich vorbestraft, unter anderem wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Er hat sich in Chats selbst als "schlafende Zelle" bezeichnet, Anschläge in Dresden geplant, sich für Bauanleitungen von Sprengstoffgürteln interessiert. Wie hat er reagiert, wenn Sie mit ihm darüber gesprochen haben?

Mücke: Er hat das alles relativiert. Das sei alles nicht so ernst gemeint gewesen. Er war keiner, der uns gegenüber gesagt hat: Ich habe diese Ideologie, ich werde weiter dafür kämpfen, überhaupt nicht. Dennoch hat er, das war offensichtlich, ein fundamentalistisches Religionsverständnis. Wir haben ihn in den Gesprächen bewusst mit anderen Sichtweisen konfrontiert, geprüft, wie er das aushält. Auch darauf hat er sich eingelassen. All das nimmt man zur Kenntnis, ändert aber nichts daran, dass man ihn trotzdem weiter als Gefährder ernst nimmt.

ZEIT ONLINE: Woran erkennen Sie, dass Sie von Klienten getäuscht werden?

Mücke: Man merkt es daran, dass Personen häufig Aussagen wiederholen. Oder dass sie Augenkontakt vermeiden. Unsere Kollegen und Kolleginnen, die Pädagogen sind, haben ein gutes Gefühl dafür, wenn etwas nicht stimmt. Solche Eindrücke geben wir sofort an die Sicherheitsbehörden weiter. In einigen Fällen hat sich herausgestellt, dass unsere Sorgen nicht unberechtigt waren.

ZEIT ONLINE: Abdullah A. H. H. wurde Ende September aus der Haft entlassen und in einem Asylbewerberheim in Dresden untergebracht. Wie ging der Kontakt mit Ihnen weiter?

Mücke: Das letzte Gespräch in der Haft hatten unsere Kollegen mit ihm am 23. September. Sie waren sehr wachsam, ob es Hinweise gab, dass er irgendeine Straftat planen könnte. Es gibt bei Klienten manchmal diffuse Aussagen wie "Es muss etwas passieren" oder man merkt ihnen an, dass sie unter besonderem emotionalem Druck stehen. Das war bei ihm alles nicht spürbar. Auch nicht, als er unser Team nach der Haftentlassung kontaktiert hat. Er ist nun dringend tatverdächtig, die Attacke auf die beiden Touristen in Dresden begangen zu haben. Die sehr gewaltvolle Tat geschah am 4. Oktober. Gleich am nächsten Tag hat er sich aus eigenem Antrieb bei unserem Kollegen gemeldet, dass die Beratungsarbeit mit uns jetzt beginnen kann. Er war vollkommen ruhig und gelassen. 

ZEIT ONLINE: Wann haben Sie ihn das erste Mal getroffen?

Mücke: 
Am 7. Oktober, da war er auch völlig entspannt. Unsere beiden Kollegen und Kolleginnen, die ihn betreut haben, haben ihn im Zentrum von Dresden getroffen, weil er sich dort in der Nähe ja regelmäßig bei der Polizei melden musste. Sie waren mit ihm an jenem Tag sogar in der Nähe des Tatorts spazieren. Er zeigte dabei nicht die geringste emotionale Regung. Wir prüfen sehr genau: Wirkt eine Person unsicher? Gibt es irgendeine emotionale Auffälligkeit? Aber da war gar nichts. Es ging bei den Gesprächen um die Schritte nach der Haftentlassung. Sein Ziel war es, gut klarzukommen, so sagte er. Wenn Sie sich die Protokolle dieser Gespräche durchlesen würden, kämen Sie nie auf die Idee, dass er kurz vorher einen Mord begangen haben könnte. Die Ausführung der Tat war absolut verroht. Er ist ein junger Mensch. Meist hat man eine emotionale Reaktion bei solchen Fällen. Das war hier nicht so.

ZEIT ONLINE: War das bei den nächsten Treffen genauso?

Mücke: Unser Team hat sich am 13., am 17. und am 19. Oktober noch mal mit ihm getroffen, und es gab weiterhin keine Auffälligkeiten. Im letzten Beratungsgespräch hat er sich beschwert, dass er von der Polizei observiert wurde. Das war ebenfalls eine Maßnahme nach seiner Haftentlassung. Er sagte, er habe doch nichts getan. Es ist ihm demnach nicht entgangen, dass die Sicherheitsbehörden ihn genau im Auge hatten. Am 21. Oktober sollte das nächste Treffen stattfinden, aber da war er telefonisch nicht zu erreichen. Wir sind dann von den Sicherheitsbehörden über seine Festnahme informiert worden. Wir haben in unserem Arbeitskontext immer mal mit schwierigen Situationen zu tun, bemerken mitunter auch Belastungssituationen von Klienten, was uns dann alarmiert. Über diese Festnahme waren wir sehr überrascht, weil es so gar nicht ins Bild passte. Solch einen Moment habe ich bisher noch nicht erlebt. Es ist noch nie vorher passiert, dass sich jemand im Beratungskontext so verhält und zugleich diese grausame Tat begangen haben könnte. Das ist wirklich mehr als ungewöhnlich. 

ZEIT ONLINE: Was ist Ihre Erklärung für diese Diskrepanz?

Mücke: Ich denke, dass Abdullah A. H. H., falls er der Täter war, extrem abgestumpft und emotionslos ist – in einer Form, die es unmöglich macht, hinter die Fassade zu schauen.

ZEIT ONLINE: Abdullah A. H. H. ist 2015 nach Deutschland gekommen. Hat er sich hier radikalisiert oder vorher?

Mücke: Er ist aus Syrien geflüchtet, über seine Fluchtgeschichte wissen wir allerdings nicht viel, nur einige Bruchstücke. Man muss sich natürlich fragen, was ihm dabei passiert ist. Was ihn möglicherweise getriggert hat. Es ist davon auszugehen, dass der Angriff, der Mord in Dresden, eine geplante Tat war. Falls er der Tat überführt wird, muss man schauen, woher ein solcher Gewaltdruck kommt, ob sie religiös motiviert war. 

ZEIT ONLINE: Müssen Sie sich in der Rückschau den Vorwurf gefallen lassen, möglicherweise etwas übersehen zu haben?

Mücke: Nein, wir haben alles sehr ausführlich protokolliert, jedes Gespräch mit Abdullah A. H. H. Wir hatten intern einen sehr intensiven fachlichen Austausch zu diesem Fall, wir haben auf alles genau geschaut. Aber wir können auch nur dann einen Hinweis geben, wenn wir etwas bemerken. Wir hatten schon einige Fälle, wo wir gemerkt haben, dass der Veränderungsprozess, den wir anstreben, nicht positiv verlaufen würde, eine Deradikalisierung nicht möglich ist. Wir bleiben dann trotzdem dran, auch mit dem Ziel, ein Frühwarnsystem zu sein für mögliche Gefahrensituationen. Wir hatten bisher allerdings noch keinen Fall, wo es keinen Hinweis gab, dass unmittelbar etwas passieren könnte. Das ist das erste Mal. Wir müssen hinnehmen, dass ein Restrisiko bleibt. Für die Akteure, mit denen wir zusammengearbeitet haben, inklusive der Sicherheitsbehörden, nach allem, was ich mitbekommen habe, würde ich sagen: Alle haben mit hohem Verantwortungsbewusstsein gearbeitet.

ZEIT ONLINE: Wie gehen Sie mit diesem Fall weiter um?

Mücke: Jetzt stehen die Ermittlungen im Mittelpunkt, für die wir selbstverständlich zur Verfügung stehen. Natürlich gilt unser Beileid den Opfern und deren Angehörigen. Für unsere Kollegen und Kolleginnen ist das aber auch ein Schock. Sie haben möglicherweise mit einem Menschen zu tun gehabt, der eine extrem brutale Tat begangen hat. Falls Abdullah A. H. H. es getan hat, wäre es auch möglich gewesen, dass uns so etwas hätte passieren können. Wir haben natürlich Sicherheitskonzepte für unsere Kolleginnen und Kollegen, die werden wir jetzt auch noch einmal genau überprüfen.