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Kevin Kühnert

Kühnert über islamistischen Anschlag in Frankreich "Die politische Linke sollte ihr Schweigen beenden"

Kevin Kühnert
Ein Gastbeitrag von Kevin Kühnert
In Frankreich wird ein Lehrer enthauptet - und wir finden keine Worte. Wenn die politische Linke den Kampf gegen Islamismus nicht länger Rassisten überlassen will, muss sie sich endlich mit diesem blinden Fleck beschäftigen.
Foto: Marie Magnin / imago images

Fünf Tage nach der islamistisch motivierten Tötung des französischen Lehrers Samuel Paty gedenkt die französische Republik im Rahmen einer nationalen Gedenkfeier des Opfers. Paty, der im Rahmen seines Unterrichts wiederholt die Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift "Charlie Hebdo" als Beispiel genutzt hatte, um über Meinungsfreiheit diskutieren zu können, wurde am 16. Oktober von einem 18-Jährigen enthauptet. 

Am Anschlagsort Conflans-Sainte-Honorine nordwestlich von Paris sowie in der Hauptstadt versammelten sich in den vergangenen Tagen Tausende, um ihrer Trauer und Wut Ausdruck zu verleihen. Frankreich ist aufgewühlt, weil terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren zu häufig verübt wurden, um sie noch glaubhaft zu fürchterlichen Einzelfällen erklären zu können.

Zur Person
Foto: Daniel Hofer / DER SPIEGEL

Kevin Kühnert, Jahrgang 1989, war von November 2017 bis Januar 2021 Bundesvorsitzender der Jusos. Seit Dezember 2019 ist er stellvertretender Vorsitzender der SPD. Kühnert hat in Berlin für den Bundestag kandidiert.

Und in Deutschland?

Herrscht weitgehende Stille.

Wir, die wir uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit der aus Krieg und Terror gegen jede Wahrscheinlichkeit gewachsenen französisch-deutschen Freundschaft versichern, finden keine Worte für unsere Nachbarn.

Und es drängt sich der Eindruck auf, als würden wir auch gar nicht nach welchen suchen. Statt über Paty zu sprechen, diskutieren wir über das Party-Verhalten von Jugendlichen in Corona-Zeiten.

Neben wenigen Stimmen der ehrlichen Empathie melden sich in Deutschland bislang vor allem einige Rechtsaußen zu Wort, die dem links-liberalen Lager vorwerfen, es würde insgeheim mit Islamisten kuscheln. Die bestialische Tötung eines Menschen verkommt so innerhalb weniger Tage zur politischen Limbostange, mit der auf dem politischen Parkett nach bekannten Regeln zum Tanz aufgefordert wird.

Ist das ein angemessener Umgang mit der Situation? Natürlich nicht.

Insbesondere die politische Linke sollte ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden. Nicht, weil sie von rechts mit durchschaubaren Argumenten dafür kritisiert wird. Sie muss das Wort erheben, weil es auch und insbesondere ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem Terroranschlag mit Füßen getreten, mit Messern erdolcht und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden.

Wie kann man das übersehen oder dazu schweigen?

Ich meine damit nicht allein die Verletzung elementarer Grund- und Menschenrechte, die richtigerweise universell sind und keinem politischen Lager gehören. Und erst recht geht es mir nicht um ein politisch inszeniertes Betrauern der Opfer oder gar das Durchleuchten ihrer Grundhaltungen. Mitgefühl und Trauer sollten Eckpfeiler zwischenmenschlichen Anstands sein und keine politische Bückware, die nur auf Nachfrage ausgereicht wird.

Nein, als links denkender Mensch entsteht zumindest meine Empörung aus etwas anderem. Mich beschäftigt das in der beispiellosen Anmaßung zum Richter über Leben und Tod mündende Menschenbild der Täter.

Diese Selbstermächtigung, (über) andere zu richten, stellt nicht nur einen ungeheuerlichen Eingriff in die erstrittenen Regeln menschlichen Miteinanders dar. Es handelt sich auch um durch und durch autoritäre Taten, die sich nicht nur gegen Recht, Gesetz und gesellschaftliche Normen, sondern insbesondere auch gegen die von links proklamierte Gesellschaft der Freien und Gleichen mit mörderischer Brutalität wendet. Wie kann man das übersehen oder gar dazu schweigen?

"Es steht der Vorwurf im Raum, in linken Weltbildern gebe es "richtige" und "falsche" Opfer oder Täter. Und auch wenn dieser Vorwurf polemisch und pauschal daherkommen mag, so kann doch der Eindruck entstehen, dass da ein Funke Wahrheit im Spiel ist."

Nun ist es in Zeiten unserer heutigen Informationsgesellschaft unwahrscheinlich, dass sich die Nachricht eines solchen Terroraktes nicht binnen fünf Tagen bis in die meisten Ecken der Gesellschaft herumgesprochen hat. Das Schweigen muss also andere Ursachen haben und die dürften vielfach auch mit der islamistischen Motivation des Attentäters zu tun haben.

Ich bin überzeugt, dass viele von uns dem vom rassistischen Ressentiment lebenden politischen Gegner keine ungewollten Stichworte liefern wollen. Und dass wir durch unser Schweigen genau das Gegenteil dessen erreichen, weil es als Argument gegen uns in Stellung gebracht wird. Und weil dieser Umstand die Ressentiments verstärkt, vor denen wir betroffene Menschen eigentlich schützen wollen.

Es steht der Vorwurf im Raum, in linken Weltbildern gebe es "richtige" und "falsche" Opfer oder Täter. Und auch wenn dieser Vorwurf polemisch und pauschal daherkommen mag, so kann doch der Eindruck entstehen, dass da ein Funke Wahrheit im Spiel ist.

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie nach dem Tod von Daniel H. im Sommer 2018 in Chemnitz minutiös sein Facebook-Profil öffentlich besprochen wurde. Immer auf der Suche nach Hinweisen auf seine politische Einstellung und mündend in Überschriften wie "Opfer von Chemnitz war Deutschkubaner - und links".

War das für unser Mitgefühl wirklich wichtig? Hätten wir um einen Liberalen ernsthaft weniger getrauert?

Heute mache ich ganz ähnliche Beobachtungen. Penibel wird in vielen Beiträgen über Samuel Paty darauf geachtet zu erwähnen, er habe muslimischen Schülern während der Präsentation der Mohammed-Karikaturen die Möglichkeit gegeben, den Klassenraum kurzzeitig zu verlassen.

Das war zweifelsohne ein kluger pädagogischer Schachzug. Aber was tut das im Kontext seiner Ermordung zur Sache? Es wird ja wohl niemand ernsthaft argumentieren wollen, ein weniger sensibel agierender Lehrer hätte den Tod oder zumindest weniger öffentliche Anteilnahme verdient gehabt. Erliegen wir vielleicht einfach der Versuchung, uns in einen sinnlosen Kampf um die Deutungshoheit mit Rechtsaußen zu stürzen, in dem die Opfer des Terrors zu Beweismitteln eines politischen Indizienprozesses gemacht werden?

Der Kampf gegen diese Leute als ureigenes Anliegen

Unser universalistisches Verständnis von Grund- und Menschenrechten erfordert als Kehrseite der Medaille ein ebenso universalistisches Verständnis von Menschenfeindlichkeit und ein kompromissloses Einvernehmen über deren Ablehnung in all ihren Spielarten. Auf dieser Grundlage können wir rassistische Debattenbeiträge einfacher isolieren.

Denn wer Terror und die ihn treibenden Ideologien ablehnt, der muss sich konsequenterweise gezielt gegen die Vertreter und Anhänger dieser Ideologien wenden. So wie der Attentäter von Conflans-Sainte-Honorine einer war. In diesem Fall: ein Islamist. Der Kampf gegen diese Leute und ihr Denken muss unser ureigenes Anliegen sein.

"Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus also nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen, dann muss sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen"

Rechten Kulturalisten geht es hingegen um eine ethnische Sortierung der Gesellschaft und somit um Sippenhaft. Sie argumentieren nur vordergründig gegen den Islamismus und meinen eigentlich doch das vermeintlich Fremde des Täters, das bekämpft werden soll.

Der ist ihnen nämlich nicht zuerst als Person suspekt, sondern durch seine vermutete oder tatsächliche Herkunft. Die rechtsradikale französische Oppositionsführerin Marine Le Pen äußerte zudem am Wochenende in martialischer Weise, der Islamismus müsse "mit Gewalt" aus dem Land vertrieben werden. Das lässt tief blicken. Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, der sieht eben in jedem Problem einen Nagel.

Will die politische Linke den Kampf gegen den Islamismus also nicht länger Rassisten und halbseidenen Hobbyislamforschern überlassen, dann muss sie sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck beschäftigen.

Sie muss klarstellen, dass in ihrer Idee von der gerechten Gesellschaft der Glaube eine Sache zwischen dem Einzelnen und seinem Gott ist. Niemals jedoch kann sie Glaube als eine die Freiheit einschränkende Sache zwischen einzelnen Individuen akzeptieren. Zumal wenn diese im behaupteten Auftrag eines Gottes oder einer wie auch immer gearteten Ideologie meinen, Recht sprechen und exekutieren zu können. Die Durchsetzung dieses Prinzips ist noch keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Voraussetzung für linke Politik.

Es schadet nicht, Hegel gelesen zu haben

Es schadet uns Linken (und auch allen anderen) nicht, ein bisschen Hegel, Feuerbach und Marx gelesen zu haben, um dies zu begründen. Es ist jedoch absolut nicht notwendig, um diese naheliegenden Schlussfolgerungen zu ziehen.

"Alle Terrorakte gleichen sich in ihrer Unrechtmäßigkeit und alle Todesopfer des Terrors gleichen sich in der unweigerlichen Auslöschung ihrer Existenzen."

Selbstverständlich ist es die Aufgabe linker Politik, die sozialen Zusammenhänge rund um Terror und Kriminalität zu durchleuchten und daraus Schlüsse zu ziehen. Linke Politik muss Machtverhältnisse und Hierarchien thematisieren, sich für die Sozialisation des einzelnen interessieren und sie muss diskriminierende Strukturen in Staat und Gesellschaft aufdecken und ändern. Dem Ziel folgend, unser Zusammenleben gerechter und somit auch sicherer zu machen, kann anschließend über einzelne Maßnahmen gestritten werden.

Doch über eines muss von Beginn an unverdruckste Klarheit bestehen: Alle Terrorakte gleichen sich in ihrer Unrechtmäßigkeit und alle Todesopfer des Terrors gleichen sich in der unweigerlichen Auslöschung ihrer Existenzen. Diese bedrückenden Fakten sowie das Mitgefühl mit Opfern und Angehörigen stehen am Anfang einer jeden Betrachtung.

Darüber müssen wir sprechen.

Laut, öffentlich, unmissverständlich.

Für rechte Ideologen sind Opfer islamistischen Terrors vor allem eines: Angst und Schrecken auslösende Ikonen ihrer rassistischen Thesen zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft. Dieser Argumentation, die nicht nur die Gesellschaft spaltet, sondern gleichermaßen die Opfer verhöhnt, muss gleichzeitig Einhalt geboten werden.

Grundlage dafür sollte ein breiter Konsens darüber sein, dass alle Terroropfer gleich an Würde sind und die Täter keiner Hierarchisierung bedürfen. Jegliche Lynchjustiz stellt einen barbarischen Verstoß gegen die Freiheiten dar, die mühsam für uns erkämpft wurden. Die Verurteilung solcher Taten bedarf zumindest im ersten Schritt keiner weiteren Nachfragen.

Ein solcher mit Leben gefüllter Konsens könnte stark genug sein, um keine Angst mehr vor seiner missbräuchlichen Vereinnahmung haben zu müssen.