WELT: Frau Fleischmann, am Montag haben viele Schulen in Deutschland des ermordeten Lehrers Samuel Paty gedacht. Glauben Sie, dass alle Schüler in Deutschland hinter der Verurteilung des Anschlags stehen?
Simone Fleischmann: Es ist jetzt Aufgabe der Lehrer in Deutschland, genau das zu diskutieren: Was weiß man über den Anschlag, warum ist er passiert? Es reicht sicher nicht aus, einfach nur eine Gedenkminute abzuhalten. Davon auszugehen, dass alle Schüler betroffen und andächtig sind, wäre naiv. Man muss schon erklären. Dafür brauchen Lehrer Mut.
WELT: Im Netz und auf der Straße finden sich einige, die den Anschlag relativieren und stattdessen den französischen Staatspräsidenten attackieren und verhöhnen. Machen sich solche Haltungen auch im Unterricht bemerkbar?
Fleischmann: Ja, selbstverständlich. Die gesellschaftliche Diskussion um den Tod des Lehrers und die Spaltung der Gesellschaft spiegeln sich auch in den Schulen wieder. Wir haben die ganze Bandbreite: Da gibt es Schüler, die die Tat reflektieren, und andere, die jetzt polemisieren. Schule ist wie ein Brennglas.
Das Gute ist: Lehrer bekommen diese Äußerungen oft mit. Die Schüler thematisieren im Unterricht, was sie zu Hause hören. Die Lehrer sind angehalten, die Schüler zu reflektiertem Denken anzuregen.
WELT: Der Deutsche Lehrerverband warnte neulich vor einem „Klima der Einschüchterung“ an Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Teilen Sie die Einschätzung?
Fleischmann: Natürlich haben manche Lehrer Ängste. Die Verengung der Problematik auf muslimische Jungs ist mir aber zu unterkomplex. Es geht um viel mehr: Alle Schüler müssen lernen, in einer hoch heterogenen Welt zurechtzukommen und unterschiedliche Einstellungen zu akzeptieren.
Wir müssen die Lehrer stark machen, das im Unterricht zu thematisieren. Die Gesellschaft will, dass wir politische Bildung betreiben.
WELT: Für wie groß halten Sie Problem der Einschüchterung?
Fleischmann: Es gibt nicht das eine Problem. Wir erleben Denunzierungen, Gewalt gegen Andersdenkende. Ich habe an meiner Schule erlebt, dass ein Teil der Jungs gegen schwule Mitschüler vorgegangen ist. Ich habe dann unseren Tanzlehrer gebeten, der ebenfalls schwul ist, mit den Schülern zu sprechen.
Manche Schüler sind deswegen aus dem Kurs ausgetreten. Aber nach einem Jahr Diskussion hatten wir ein Verständnis füreinander entwickelt.
WELT: Wäre es in Deutschland möglich, die Mohammed-Karikaturen im Unterricht zu zeigen?
Fleischmann: Vorsicht ist immer gut. Ich habe gehört, dass einige die Karikaturen nicht mehr zeigen wollen, obwohl sie es früher getan haben. Das kann ich gut nachvollziehen. Die Angst ist da. Aber ich würde mir wünschen, dass sich die Kolleginnen nicht entmutigen lassen, sondern den Willen haben, kontroverse Debatten in die Schule zu holen.
WELT: Kann man diesen Mut von Lehrern einfordern, die Angst haben müssen, mit einer Fatwa belegt zu werden?
Fleischmann: Es ist sicher ratsam, in dieser hoch emotionalisierten Lage behutsam vorzugehen. Wenn es Grenzüberschreitungen gibt, müssen sich die Lehrer Rückendeckung bei der Schulleitung holen. Die ganze Schule muss dann das Thema angehen. Entwicklungen wie in Frankreich kennen wir hier allerdings noch nicht.
WELT: Wie weit reicht die Meinungsfreiheit im Klassenzimmer? Müssen Lehrer die Haltung von Schülern dulden, dass die Mohammed-Karikaturen als Ehrverletzung wahrgenommen werden und deswegen nicht gezeigt werden sollten?
Fleischmann: Lehrer müssen den Diskurs ermöglichen. Sie können nicht sagen: Ich will das jetzt nicht zeigen, weil sich jemand verletzt fühlen könnte. Sie müssen mit den Schülern diskutieren: Was sagt der Staat dazu, was sagt das Recht dazu, was sagen Religionsgemeinschaften dazu?
WELT: Sollten Lehrer nicht die politische Haltung vorgeben, dass die Karikaturen in einer freiheitlichen Gesellschaft auf jeden Fall ihren Platz haben?
Fleischmann: Wir Lehrer geben keine politischen Haltungen vor. Unsere Aufgabe ist es, die Kinder ins Denken zu bringen. Dazu gehört, verschiedene gesellschaftliche Meinungen offen zu diskutieren.