Das bedrohte Wir – Seite 1

Die Autorin Asal Dardan hat Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund studiert. Hier antwortet sie auf den Vorwurf des SPD-Politikers Kevin Kühnert, die Linke schweige zu islamistischen Attentaten und mache sich so angreifbar.

Die Nachricht von dem Anschlag in Nizza, nur knapp zwei Wochen nach der grausamen Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty, ist niederschmetternd. Der Fanatismus, der hinter solchen Taten steht, macht wütend und verzweifelt. Deshalb ist es verständlich, dass Kevin Kühnert, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, vor Kurzem in einem Gastbeitrag im Spiegel eine lautstarke Reaktion auch von der deutschen Linken forderte. Aber bewirkt er wirklich, was er bewirken will?

Die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan arbeitet als freie Autorin in Berlin. Ihr Essayband "Betrachtungen einer Barbarin" erscheint im Februar 2021 im Hoffmann und Campe Verlag. © Sarah Berger

Kühnert wirft der politischen Linken ein Versagen vor, das er "unangenehm auffälliges Schweigen" nennt. Er folgt einer Argumentation, die vereinfacht lautet: Ihr setzt euch für Minderheiten ein, ignoriert aber die Probleme und die Gewalt, die aus diesen Minderheiten erwachsen, ihr scheut euch und überlasst damit den Rechten die Kritik daran. Aber selbst wenn das wahr sein sollte, handelt es sich wirklich um ein Versagen?

Es gibt eine in allen politischen Lagern weitverbreitete Vorstellung eines Islam, der ihm abspricht, was für andere Religionen selbstverständlich ist: Statt ihn als Interpretation und Praxis von Gläubigen an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zu sehen, wird er zu einem unveränderbaren Glaubensprinzip aus uralten Texten und Traditionen verklärt. Und so wird der Islamismus zum muslimischen Problem gemacht und die Religion gleich mit. Denn die Gewalt erwächst in dieser Sicht aus ihr heraus, ist ihr zu eigen.

In der Konsequenz bedeutet das, sie kann nur eingedämmt werden, wenn die Gläubigen sich an europäische Werte anpassen. Das wäre aber ebenfalls nicht die "von links proklamierte Gesellschaft der Freien und Gleichen", wie Kühnert sie gern hätte. Frei und gleich bedeutet nämlich, dass alle Menschen anders sein dürfen, ohne zum Anderen gemacht zu werden. Statt also im Namen universalistischer Werte der Gleichmacherei der Rechten nachzueifern, sollten Linke sich selbstbewusst zur gesellschaftlichen Differenz bekennen.

Muslimische Täter sind nicht Opfer ihrer Umstände

Das gilt auch im Falle von Säkularität als politische Doktrin, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron im laizistischen Frankreich vertritt. Sie verkennt, dass es nicht um die Abwesenheit von Religion im öffentlichen Leben geht, sondern um ihre Freiheit. Der Staat muss selbstverständlich unabhängig sein, aber er muss allen Gläubigen gewährleisten, dass sie in ihrer Religiosität respektiert werden und auch sichtbar sein dürfen. Ihre Sichtbarkeit ist nicht zuletzt wichtig, damit sie sich als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft wahrnehmen können – und auch wahrgenommen werden. 

Kühnert ignoriert auch, dass diese "betroffenen Menschen", wie er schreibt, nicht nur das Ziel rechter Ressentiments sind, sondern auch die Hauptopfer des islamistischen Extremismus. Viele von ihnen fliehen gerade deshalb nach Europa. Sie kommen hier aber nicht an als Menschen aus sehr unterschiedlichen Ländern, sondern werden zusammengefasst als eine Gruppe, nämlich als Muslime. Häufig zu Unrecht, weil es in Deutschland noch immer kaum ein Bewusstsein dafür gibt, dass diese Menschen nicht nur völlig desinteressiert an Religion sein können, sondern auch sehr diversen religiösen und ethnischen Gruppen angehören. Gerade deshalb werden auch Menschen, die nichts mit dem Islam zu tun haben, vom wachsenden Islamhass in Europa bedroht.  

Es leben etwa 25 Millionen muslimische Menschen in den 28 Mitgliedstaaten der EU – und das seit vielen Generationen. Neben der bosniakischen, albanischen und kosovarischen Bevölkerung Europas, den muslimischen Minderheiten in Polen, Rumänien, Bulgarien und der Krim, sind Muslime unter anderem auch durch den Commonwealth nach Großbritannien, als Arbeitsmigrantinnen nach Deutschland und als ehemals Kolonisierte nach Frankreich gekommen. Letzteres sollte man nicht vergessen, wenn man wie Kühnert die deutsch-französische Freundschaft als Sinnbild bemüht.  

Renommierte Experten wie Olivier Roy, Quintan Wiktorowicz und Talal Asad haben überzeugend herausgearbeitet, dass die meisten islamistischen Attentäter weder die Ärmsten und Gebeuteltsten noch die Religiösesten sind. Es ist allerdings keine Schwäche, achtsam mit der Tatsache umzugehen, dass sich der Rechtsextremismus in Europa seit Jahrzehnten aus der Furcht und Feindschaft gegenüber muslimischen Menschen nährt. Das zeigt der Aufstieg des Front National (heute: Rassemblement National) in Frankreich oder der AfD in Deutschland. Maßgeblich beteiligt an dieser Entwicklung waren hier nicht nur die Pegida-Demonstrationen, sondern auch Thilo Sarrazin, der noch viel zu lange ein Parteikollege Kühnerts war. Rechtsextremistische Stimmen haben also nicht ein Thema besetzt, an das Linke sich nicht herantrauen. Hier wird schlicht die Propaganda auf allen Seiten mit einer unlösbaren Debatte über den Zusammenhang von Islam und Islamismus bestärkt.

Der gravierende Unterschied zum Rechtsradikalismus

Die islamistische Gewalt ist selbstverständlich real, aber sie hat nicht unweigerlich etwas mit muslimischen Minderheiten in Europa zu tun. Der Islamismus agiert global, nutzt aber zugleich lokale Bedingungen für sich. In Europa lebt er unter anderem von der Angst vor Muslimen. Tatsächlich befeuert die wachsende Muslimfeindlichkeit laut einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena sogar den islamistischen Fundamentalismus. An dieser Gewaltspirale sollte man gerade als Linker nicht weiter mitwirken.

So wie Sarrazins Name in Kühnerts Text nicht fällt, vergisst er übrigens auch ansonsten die Rolle seiner eigenen Partei. Etwa als Teil der Regierung, die Waffenlieferungen und Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten mitträgt, die als finanzielle und ideelle Unterstützer von Islamisten bekannt sind. Abgesehen davon freuen sich auch Islamisten über öffentliche Distanzierungen von nichtmuslimischen Stimmen, weil auch sie von der Erzählung eines Kampfes unversöhnlicher Kulturen zehren. Auf beiden Seiten steht dann ein Wir, bedroht in seinen Werten und seiner Existenz durch ein feindliches Anderes. Den Islamismus dabei als irrationale Bedrohung darzustellen hilft ihnen besonders, weil sie dadurch die politischen, sozialen und ökonomischen Missstände, die ihm zugrunde liegen, weiter für sich instrumentalisieren können.

Kühnert hat zwar recht, wenn er schreibt: "Alle Terrorakte gleichen sich in ihrer Unrechtmäßigkeit und alle Todesopfer des Terrors gleichen sich in der unweigerlichen Auslöschung ihrer Existenzen." Das bedeutet aber nicht, dass alle Terrorakte auf die gleiche Weise entstehen oder verhindert werden können. Wer wirklich etwas dagegen tun will, darf die Unterschiede nicht einfach übergehen.

Der Rechtsradikalismus nutzt zwar die Rhetorik des Unterdrücktseins und des Widerstands: Wir die Underdogs gegen die große Macht. Aber was ihn heute in Europa nährt und vor allem auch so gefährlich macht, ist, dass er für eine potenzielle Mehrheit steht, die sich jederzeit mit lebensbedrohlichen Folgen – man denke bloß an die rechtsextremen Polizei-Chatgruppen – gegen ganze Minderheiten richten kann. Im Gegensatz dazu kann der Islamismus in Europa keinen ernst zu nehmenden Machtanspruch aufbauen. Je mehr man islamistischen Gruppen einen Anlass gibt, sich auf die Ausgrenzung von Muslimen in Europa zu verlassen, desto stärker macht man sie. Hier liegt der gravierende Unterschied zur richtigen und wichtigen öffentlichen Distanzierung vom Rechtsradikalismus begründet – gerade in Deutschland.

Der Islamismus ist ein lokales Problem

Ideologien werden von Menschen getragen und durch soziale und politische Rahmenbedingungen befördert. Darum müssen Linke sich mit diesen Menschen befassen. Das weiß auch Kühnert, schließlich schreibt er in seinem Text: "Linke Politik muss Machtverhältnisse und Hierarchien thematisieren, sich für die Sozialisation des einzelnen interessieren und sie muss diskriminierende Strukturen in Staat und Gesellschaft aufdecken und ändern."

Warum sich also mit Haltungsnoten für Linke aufhalten? Warum in Europa lebende Muslime noch weiter als verdächtig brandmarken? Ob man den Islamismus nun als modernen Prozess ähnlich des Nationalismus, als manipulative Jugendbewegung oder eine extreme Auslegung von Traditionen sieht – man wird ihn in Europa nur eindämmen können, wenn man sich mit den Lebensbedingungen seiner Anhänger beschäftigt, muslimische Akteurinnen einbindet und effektive Maßnahmen gegen ihn stärkt. Dazu gehört auch, das Problem als lokales zu begreifen, eines, das zu uns gehört, weil es in unseren Schulen, unseren Gefängnissen und unseren Straßen wächst.

Wie wertvoll und bemerkenswert wäre es gewesen, hätte Kühnert in seinem Text über die bereits bestehende Erfahrung und Präventionsarbeit im Bereich des Islamismus geschrieben, die im Übrigen zum überwiegenden Teil von linken und migrantischen Menschen geleistet wird. So bleibt bloß der Eindruck, dass er die eigenen Grenzen und die eigene Hilflosigkeit als allgemeines Problem formuliert hat.

Nach den Morden in Nizza werden sich auch seinetwegen nun Linke zu Wort melden, sie werden sich distanzieren und Islamismus öffentlich verurteilen. Es bleibt zu hoffen, dass sie dabei ihre muslimischen Mitbürgerinnen nicht vergessen und sich einer Vermischung von Islam, muslimisch gelesenen Menschen und Islamismus verwehren.