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Stuttgart und das Erzgebirge Wie die deutschen »Bible Belts« die Anti-Corona-Proteste befeuern

Der Protest gegen die Corona-Politik organisiert sich viel aus Dresden und Stuttgart. Die Regionen verbinden Widerstandsidentität, evangelikale Strukturen – und eine verbreitete Liebe zur AfD.

Die Reise zum Widerstand wird komfortabel, verspricht ein gewisser Steffen in einem Corona-Leugner-Chat beim Messengerdienst Telegram. »Wir fahren von Dresden mit großen Reisebussen«, schreibt er, »voll klimatisiert mit Bordtoilette!« Es gebe mehr als zehn Busse, auch aus Pirna und dem Erzgebirge, »Pinkel- und Raucherpause« auf dem Weg nach Berlin seien eingeplant. Um neun Uhr wolle man in der Hauptstadt sein. »Sind von der AfD«, schreibt Steffen noch, »nehmen aber auch andere Patrioten mit.«

Er ist nicht der Einzige, der in der Telegram-Gruppe Reisemöglichkeiten gen Berlin austauscht. Viele andere bieten oder suchen Mitfahrgelegenheiten aus Sachsen, zahlreiche weitere Chatmitglieder melden sich aus Stuttgart, Heidenheim, Aalen und Schwäbisch Gmünd.

Protesttouristen aus dem sächsischen Erzgebirge und dem Stuttgarter Umland

Am Mittwoch haben Bundestag und Bundesrat die Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Bundesweit hatten sich Gegner der Corona-Maßnahmen angekündigt. In sozialen Netzwerken, über Telegram und auf Veranstaltungen der »Querdenken«-Initiative schworen sie sich auf Blockaden im Regierungsviertel ein. Die Polizei rechnete im Vorfeld mit mehreren Tausend Teilnehmenden. Schon am Mittag wurde die zentrale Veranstaltung am Brandenburger Tor in direkter Nähe des Reichstagsgebäudes aufgelöst, kaum einer hatte sich an Hygieneauflagen gehalten. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Demonstrierende bewarfen die Beamten nach Polizeiangaben  mit Flaschen, Steinen und Böllern.

»Renitenz und Protest sind in Erzgebirge und Stuttgart seit Jahren gereift.«

Politikwissenschaftler Michael Lühmann

Dass sich die Protesttouristen – zumindest die via Telegram – vor allem aus dem sächsischen Erzgebirge und dem Stuttgarter Umland auf den Weg machten, ist kein Zufall. Die beiden Regionen seien die »Bible Belts« der Bundesrepublik, sagt der Leipziger Historiker und Politikwissenschaftler Michael Lühmann – »Renitenz und Protest sind hier seit Jahren gereift«. Lühmann forscht an der Uni Göttingen zum deutschen Osten, schon 2016 hat er die Netzwerke konservativer Christen und der Neuen Rechten entlang der deutschen »Bible Belts« in einer Studie  erforscht.

In den USA steht der Begriff »Bible Belt« für jene bibeltreuen Landstriche, in denen Evangelikale weit über ihre Gemeinden hinaus ins politische und gesellschaftliche Leben hineinwirken. Der Dresdner Raum und das Erzgebirge in Sachsen sowie das Stuttgarter Umland in Baden-Württemberg wiesen ähnliche Strukturen auf, sagt Lühmann. 

Widerstand des »Pietkong«

Obwohl die ehemalige DDR alles Kirchliche geschleift hatte, habe sich ein sehr aktives konservativ-protestantisches Gemeindeleben vor allem in Ostsachsen und dem Erzgebirge bewahrt, so Lühmann. »Die Kirchen sind hier immer noch sehr gut gefüllt und ein bedeutender gesellschaftlicher Akteur.« Auch Stuttgart sei – wie das sächsische Pendant – eingebettet in einen historisch gewachsenen Pietismus. Von den Schwaben spricht man gar – analog zum kommunistischen Viet-Kong – vom »Pietkong«.

Beide Regionen eint der Widerstand gegen die Moderne und eine Abwehr alles Fremden. Die Anerkennung von Diversität und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind in Sachsen seit Jahren deutlich schlechter ausgeprägt als im Bundesschnitt, besagt eine Studie der Bertelsmann Stiftung .

Evangelikaler Traditionalismus allein erklärt aber nicht die Mobilisierungslust für die Proteste gegen die Corona-Politik. Auch seit Jahren gewachsene Erfahrungen im Aufbegehren gehören dazu, vor allem mit den »Stuttgart 21«-Protesten  und den islamfeindlichen »Pegida«-Märschen – Menschen aus den Regionen haben sich eine besondere Form der Widerstandsidentität geschaffen. Im Erzgebirgschen gibt es dafür sogar ein eigenes aus dem Französischen entlehntes Wort: »fischelant«. Es meint: wachsam sein, smart sein, misstrauisch bleiben.

Stuttgart und Sachsen eint die Hauptsache-Dagegen-Haltung

Das Christliche komme mit dem Aufständischen zusammen, sagt Lühmann: »Die Bewegungen in Sachsen und Stuttgart finden durch gemeinsame Feindbildkonstruktionen zueinander.« Gemeint ist das, was die Demonstrierenden gern als »links-grünen Mainstream« verunglimpfen. 

Den Unmut schürten in den vergangenen Jahren die verschiedensten Themen – sei es die Gleichstellung von Frau und Mann, die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Umgang mit der Klimakrise oder Genderfragen. Der Umgang mit der Corona-Pandemie ist nur die neueste Ausprägung. Es ist eine Hauptsache-Dagegen-Haltung.

Eigentlich geht es am Ende gar nicht mehr um die Sache, sagt auch Lühmann, es gehe um Elitenkritik. »Der Widerstand ist komplett vom eigentlichen Thema entkoppelt, die Demonstrierenden brauchen nur ein Vehikel gegen die Staatlichkeit.«

Nazivergleiche und bewusste Falschmeldungen

Von diesem Misstrauen gegen den Staat war auch auf den Kundgebungen in Berlin am Mittwoch viel zu sehen. Schon im Vorfeld wurde auf »Querdenken«-Kanälen und rechtsextremen Seiten Stimmung gegen das geplante Infektionsschutzgesetz gemacht.

Kritik am Gesetz gibt es tatsächlich. Die Opposition bemängelt eine zu rasche Umsetzung und fürchtet, der Regierung werde es noch leichter gemacht, am Parlament vorbei zu entscheiden. Im Dunstkreis der Demonstrierenden aber wurde das Gesetz rasch zum »Ermächtigungsgesetz« umgedeutet – allein deshalb, weil der juristische Begriff »Ermächtigung« 13 Mal im Gesetzestext auftaucht. Es wird damit auf eine Stufe gestellt mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933, mit dem die Nazis die Republik abschafften.

Bewusst wird auch die Falschmeldung verbreitet, Gesundheitsminister Jens Spahn plane mit dem Gesetz Zwangsimpfungen. Vieles im Protest gegen Corona-Maßnahmen läuft über angeblichen Kinderschutz. So kursieren Gerüchte, es seien bereits Schulkinder unter der Maske erstickt, auf einer Demo musste eine Elfjährige eine Erklärung ablesen, sie habe sich beim heimlich gefeierten Kindergeburtstag »wie bei Anne Frank« gefühlt.

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Die Fokussierung auf Kinder kommt nicht von ungefähr. Es geht um die Verteidigung eines konservativ-christlichen Wertebilds, die Frau erzieht die Kinder daheim, die Kleinen sollen von allen äußeren Einflüssen geschützt werden. In der Vergangenheit war die angebliche »Frühsexualisierung« im Schulunterricht das rote Tuch, nun sind es angebliche Zwangsimpfungen. 

Gebetstreffen gegen die »Pläne des Satans«

Eine der Gruppen, die das forciert, sind die »Christen im Widerstand«. Ihre Gebetstreffen für »geisterfüllte Christen« finden nach eigenen Angaben vor allem im Schwäbischen, im Erzgebirge, entlang des Rheins und um Berlin statt. In Onlinepredigten bezeichnet die Gruppe die Anti-Corona-Maßnahmen als »Pläne des Satans« und fabuliert von Menschen, die versklavt würden.

Christen-Netzwerk mit AfD-Verzweigung

Unter den Corona-Maßnahmen leiden Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland. Aber besonders rund um Dresden und Stuttgart verwandelt sich das Unbehagen in Zorn. Und das liegt auch an der AfD. Offiziell gibt sich die Partei überkonfessionell, tatsächlich suchte sie vor allem in ihren Anfängen den Schulterschluss mit evangelikalen Gemeinden und Fürsprechern aus den deutschen »Bible Belts«. Seit Jahren wiegeln die Rechtspopulisten in den Ländern auf, schüren Zweifel an Staat und Demokratie.

»Es geht darum, die Demokratie in Zweifel zu ziehen und kaputt zu schießen.«

Politikwissenschaftler Michael Lühmann

Die AfD hat sich früh in ein Netzwerk aus konservativen Christen und neurechten Medien eingebettet. Vor allem Sven von Storch hat hier maßgeblich mitgewirkt. Der Ehemann der Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch hat über die Stuttgarter »Demo für alle« eine ultrakonservative Ideenwelt geschaffen, die das Christliche eng mit der Parteipolitik verbindet. Nicht umsonst hatte die AfD bei der Bundestagswahl 2013 in den Wahlkreisen im Schwäbischen frühe Hochburgen.

Am Ende gehe es darum, eine Bewegung rechts der Mitte zu schaffen, die gleichermaßen auf der Straße wie in den Parlamenten am Umsturz des Staates arbeitet, sagt Lühmann. Die Akteure der Bewegung würden sich »immer neue Krisen suchen«, Corona sei da einfach nur die jüngste Ausprägung. »Es geht darum, die Demokratie in Zweifel zu ziehen und kaputt zu schießen«, sagt der Politikwissenschaftler. 

»Bleibt standhaft«

Dass die Akteure der Anti-Corona-Kundgebungen in Berlin am Mittwoch genau das im Sinn hatten, zeigt der Blick in ihre Telegram-Chats. Am Mittwoch schaukelte sich dort die Stimmung hoch. Das sei hier »kein Spiel« schreibt einer über die Demonstrationen, man müsse unbedingt zum abgesperrten Bundestag vordringen. »Bleibt standhaft«, motiviert ein anderer. 

Ein Chatmitglied orakelt, im Vergleich zu dem, was noch passieren werde, »war der August ein Kindergeburtstag«. Damals war es Teilnehmern einer Anti-Corona-Demonstration kurzzeitig gelungen, die Treppen vor dem Reichstagsgebäude zu stürmen. Nur ins Parlamentsgebäude hatten sie es nicht geschafft.

Anmerkung: In einer früheren Version war eine irreführende Formulierung über eine Bertelsmann-Studie zu Baden-Württemberg enthalten. Wir haben Zusammenhalts-Werte der katholisch geprägten Ostalb dem evangelikal geprägten Stuttgarter Umland zugerechnet. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.