Von Jana aus Kassel hat fast jeder gehört: jener Studentin, die gegen Corona-Maßnahmen protestierte und sich auf der Bühne mit Sophie Scholl verglich, weil, ist ja klar, damals wie heute lebt man im Widerstand! Oder von dem elfjährigen Mädchen in Karlsruhe, das sich so fühlte wie Anne Frank, weil es seinen Kindergeburtstag wegen der Kontaktbeschränkungen heimlich feiern musste. Das Infektionsschutzgesetz ist – natürlich!! –  der moderne Wiedergänger von Hitlers Ermächtigungsgesetz und die Gesetzesgegner von heute eigentlich die Widerstandskämpfer von damals.

Die Vergleiche wirken so irre wie die Chatgruppen der Corona-Leugner, in denen ein Christian oder eine Carolin Attila Hildmann aus dem Keller des Flughafen Tegels retten wollen, wo er auf einer geheimen Impfstation gleichgeschaltet werden soll. Oder ein Dennis, der vor Impfmücken warnt. Aber sie sind nicht einfach nur irre, sondern zugleich eine ziemlich geschickte Manipulation. Sie verknüpfen die Gegenwart mit der Vergangenheit, sie versuchen ein bisschen etwas von der Authentizität des Damals ins Heute zu übertragen. Sie suchen nach einer effektvollen Bildsprache, die obszön ist, aber eben Bekanntes abruft.

In ihrer Welt ist Minsk Berlin

Aber sie vergreifen sich nicht nur an der Vergangenheit, sondern missbrauchen auch die Gegenwart für ihre Zwecke. Die Situation in Belarus zum Beispiel. Seit der gefälschten Präsidentschaftswahl am 9. August protestieren Hunderttausende Belarussen. Sie fordern freie und faire Wahlen und ein Ende der enthemmten Staatsgewalt. 111 Tage dauern die Proteste schon an. In dieser Zeit wurden mehr als 30.000 Menschen festgenommen, über 13.000 haben das Land verlassen, mehr als 100 sitzen aus politischen Gründen im Gefängnis. Unter ihnen sind Journalisten, Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte, Politikerinnen. Ihnen drohen jahrelange Haftstrafen.

Ärzte, die die Polizeigewalt kritisieren, werden mitten in einer Pandemie entlassen, Hunderte Fälle von Folter hat die UN dokumentiert, in Wirklichkeit dürften es noch viel mehr sein, und die Augenzeugenberichte aus den Gefängnissen sind erschütternd. Sie handeln von Menschen, die sich stundenlang mit erhobenen Armen an eine Wand drücken mussten, das Gesicht zu Boden, immer wieder Schläge auf Beine und Kopf.

Diese Nachrichten verschwinden langsam aus den Medien und etwas anderes nimmt Platz ein, was den Corona-Leugnern die Sache leichter macht. In ihrer Welt ist Minsk Berlin, ist Merkel Lukaschenko, ist die Berliner Polizei die Omon-Sonderpolizei. Ach was, sie ist viel schlimmer! "Verzweifelter Aufschrei", schreibt ein AfD-Verband, der keinen Unterschied erkennen kann zwischen den mit Blendgranaten und Gummigeschossen auf Demonstranten zielenden Sondereinheiten in Belarus und den Wasserwerfern in Berlin, die den Strahl nicht auf Demonstranten richten, sondern nach oben, damit er diffus wird und die Demonstranten nur "beregnet" werden.

Ein AfD-naher Professor fand dennoch, dass die Bilder aus Berlin "schlimmer" seien als die aus Minsk. Und was dachte sich wohl der Protestierende, der mit diesem Plakat rumlief: "Versammlungsfreiheit nicht nur für Minsk!" Hat er wirklich nicht bemerkt, wie absurd es ist, auf einer angemeldeten Demonstration Demonstrationsrechte zu fordern?

Deshalb gern die Erinnerung: In Belarus geht der Staat gegen die Protestierenden vor, weil sie protestieren. In Berlin geht der Staat gegen die Protestierenden vor, weil sie sich weigern, Masken aufzusetzen und Abstand zu halten. Das ist alles, was man von ihnen verlangt und offenbar doch zu viel. Die beiden Protestbewegungen – rein gar nichts haben sie miteinander zu tun.