Die Corona-Pandemie verunsichert die Gesellschaft. Davon profitieren Extremisten vor allem im Internet, am stärksten Rechtsextremisten, wie eine Studie des Institute for Strategic Dialogue zeigt, die ZEIT ONLINE vorab exklusiv vorliegt. Demnach haben Extremisten zwischen März und September 2020 ihre Reichweite im Netz um durchschnittlich 14 Prozent steigern können. Rechtsextreme haben die Corona-Krise besonders stark für sich nutzen können (plus 18 Prozent), Islamisten konnten am wenigsten davon profitieren (plus sechs Prozent). Der Politikwissenschaftler und Co-Autor der Studie, Jakob Guhl, erklärt im Interview, woran das liegt, was der Anschlag in Wien damit zu tun hat und warum Verschwörungsmythen für Islamisten in der Pandemie kaum eine Rolle spielen.

ZEIT ONLINE: Herr Guhl, nach den islamistischen Terroranschlägen in Wien und in Frankreich, muss man da sagen: Der islamistische Extremismus wurde in der Corona-Krise vergessen?

Jakob Guhl: Ich fürchte, das war auch vor der Pandemie der Fall. Nachdem das Kalifat des IS an Territorium verlor und die Anschläge weltweit seltener wurden, rückte der Islamismus in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund. Auch, weil es so viele rechtsextreme Anschläge gab: in Christchurch, Hanau und Halle zum Beispiel. Die Öffentlichkeit hatte einen anderen Fokus. Aber die islamistischen Netzwerke existieren natürlich weiter, ebenso wie ihre Anhänger. Sie sind hochradikalisiert.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich insbesondere mit Extremismus im Netz beschäftigt, dazu erscheint in dieser Woche ein Report des Instituts for Strategic Dialogue, den Sie verantworten. Er zeigt, dass Extremisten, egal ob rechts, links oder islamistisch, die Pandemie genutzt haben, um ihre Reichweite im Internet zu erhöhen. Islamisten konnten die Krise demnach am wenigsten für sich nutzen. Woran liegt das?

Guhl: Das lässt sich auf Grundlage der Daten nicht mit Sicherheit sagen, aber ich vermute, dass die Community weitgehend ausgeschöpft ist, und es dadurch nur noch wenig Wachstumspotenzial gibt. Rechtsextreme konnten stark von der Krise profitieren, weil sie in der Pandemie stark und ganz aktiv an Verschwörungstheorien angeknüpft haben. Islamistische Influencer wie Pierre Vogel haben sich dagegen deutlich und glaubwürdig gegen diese Verschwörungsmythen gestellt.

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ZEIT ONLINE: Wohl kaum aus Sorge um die Gesundheit anderer. Widerspricht die Vielzahl von vermeintlichen Erklärungen für die Pandemie einfach dem islamistischen Narrativ?

Guhl: Ich glaube, die meinen es ernst. Einige Islamisten betrachten das Virus als eine Art Strafe Allahs.

ZEIT ONLINE: Der IS nannte Corona einen "Soldaten Gottes". Was soll das heißen?

Guhl: Gott hat nach islamistischer Lesart dieses Virus geschaffen und bestraft damit zwei Personengruppen. Einerseits die Ungläubigen, die sich vermeintlich im Krieg mit dem Islam befinden, also etwa China und die USA. Viele der am Anfang betroffenen Nationen sieht der IS ja als seine Hauptfeinde. Andererseits werden demnach jene Muslime bestraft, die aus dieser extremistischen Sicht als nicht ausreichend gläubig betrachtet werden und ein sündhaftes Leben führen.

ZEIT ONLINE: "Für praktizierende Muslime veränderte sich das religiöse Leben während der Corona-Pandemie oft drastisch", heißt es in Ihrem Bericht. Begünstigt das die Radikalisierung im Netz?

Guhl: Wir alle haben große Einschnitte erlebt, sie betreffen auch das religiöse Leben. Das merkt man schon daran, dass viele jetzt befürchten, dass Weihnachten ausfällt. Wenn man dann stark religiös lebt, fallen die Einschränkungen besonders ins Gewicht. Islamisten setzen bei dieser Unzufriedenheit an. Sie locken mit Themen, die auch für nicht islamistische Muslime von Bedeutung sind.

Der Politikwissenschaftler Jakob Guhl arbeitet als Koordinator am ISD und forscht dort vor allem im digitalen Bereich zu Themen wie Rechtsterrorismus, Islamismus und Radikalisierung. © privat

ZEIT ONLINE: Sind die Anschläge, wie wir sie jetzt in Wien und in Frankreich erlebt haben, eine Folge der Onlineradikalisierung?

Guhl: Da können verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: Netzwerke in der Offlinewelt, psychische Probleme, politische Einflüsse, aber sicher auch das Netz. In Halle und Christchurch schien Letzteres wichtig gewesen zu sein. Die Manifeste der Täter bezogen sich auf diese Welt, es gab kaum Kontakte im Alltag außerhalb des Netzes. Bei den derzeitigen Anschlägen scheint das Mischverhältnis ein wenig anders.

ZEIT ONLINE: Der Anschlag in Wien wurde am Tag vor einem neuen Lockdown verübt. Welche Rolle spielt die Corona-Politik dabei?

Guhl: Das ist spekulativ, aber ich vermute, dass dahinter auch die zynische Kalkulation steckte, dass mit dem Lockdown die potenziellen Ziele für Anschläge verschwinden. Also nutzte der Täter die Gelegenheit. So ein Anschlag wird ja nicht erst gestern geplant worden sein, die Waffen müssen besorgt werden. Womöglich ging es also darum, die Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen.