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Muslimische Opfer, muslimische Täter

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gießt Öl ins Feuer der Empörung.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gießt Öl ins Feuer der Empörung. © ADEM ALTAN/afp

Die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland müssen sich gegen das Instrumentalisieren von Religion für politische Zwecke wehren. Der Gastbeitrag.

Vor einigen Jahren schenkte mir ein Bekannter die „Satanischen Verse“ des britisch-muslimischen Autors Salman Rushdie. Während der Lektüre fragte ich mich, warum dieser Roman 1989 weltweit für Demonstrationen und Gewaltausbrüche sorgte. Ich fragte mich auch, wie viele der aufgebrachten Muslime das Werk, in dem es unter anderem um die Loslösung von der islamischen Tradition geht, wirklich selbst gelesen hatten. Mir, einer muslimisch sozialisierten Deutschen, will nicht so recht einleuchten, was an der satirischen Darstellung des Propheten Mohammeds so schlimm sein soll, dass es die Gemüter seinerzeit dermaßen erhitzte, dass das iranische Staatsoberhaupt Ajatollah Khomeini ein Kopfgeld aussetzte.

Khomeini rief alle „aufrechten Muslime“ dazu auf, Rushdie „sofort hinzurichten“. Es solle „niemand mehr wagen, die Heiligkeit des Islams zu verletzen“. Viele Muslime, auch in Europa, beherzigten diese Botschaft. 2005 erschienen in einer dänischen Tageszeitung Mohammad-Karikaturen. Wieder feuerte das iranische Regime globale Empörungswellen an. Der iranische Präsident Ahmadinedschad setzte noch eins drauf und rief den internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb aus, nach dem Motto: Schauen wir mal, wie ihr im Westen unsere Meinungsfreiheit aushaltet.

Unter dem Deckmantel der religiösen Überzeugung verbarg sich politisches Kalkül. So konnte der Iran über zwei Jahrzehnte seinen Führungsanspruch in der islamischen Welt behaupten. Kein Wunder, dass auch andere muslimische Autokraten das nachahmen wollen. Ein Paradebeispiel ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. 2005 plädierte er noch für Mäßigung und Besonnenheit. Heute inszeniert er sich in populistischer Manier als Opfer und gießt Öl ins Feuer der Empörung, indem er zum Boykott französischer Waren aufruft. Auch in Sachen Holocaustrelativierung kann er es mit der iranischen Führung durchaus aufnehmen: Die Muslime in Europa seien Opfer einer „Lynchkampagne“, wie sie „gegen Juden in Europa zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde“.

Der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan verglich die „Pogrome gegen Muslime“ mit den Nazi-Pogromen gegen Juden. Der ehemalige malaysische Premier Mohamad Mahathir sprach Muslimen das Recht zu, „Millionen(!) von Franzosen zu töten“.

Nicht nur im Ausland wird das Opfernarrativ strategisch verwendet. Auch hierzulande greifen islamistische Gruppen die These auf, Muslime seien die Juden von heute. Beispielhaft dafür ist ein im Netz kursierender Clip „Der neue Jude: der ewige Moslem“ der „Generation Islam“. Aktuell werden von solchen Gruppen Holocaustvergleiche geteilt und tausendfach geliket. Zugleich wird in vielen Posts aber auch die Konkurrenz mit den Juden beklagt: „Die Juden zu beleidigen ist Antisemitismus, aber Muslime zu beleidigen ist Meinungsäußerung“, heißt es da oder: „Die Deutschen verfolgten Juden. Frankreich verfolgt Muslime.“ Der Gedanke dahinter ist einfach: Reale Diskriminierungserfahrungen von Muslimen werden instrumentalisiert und Opferkonkurrenzen geschürt, um islamistisches Gedankengut zu verbreiten.

Deutsche Muslime, unabhängig von ihrer Religiosität, stehen heute mehr denn je am Scheideweg. Die muslimische Gemeinschaft in Deutschland muss den Vereinnahmungsversuchen der Autokraten aus dem Ausland und radikaler Gruppen hierzulande eine klare Absage erteilen. Trauerbekundungen und das reflexhafte Beschwören von Demokratie und Toleranz reichen längst nicht mehr aus. Und nein, die Situation der Muslime in Europa heute hat gar nichts zu tun mit der staatlich organisierten, systematischen Entrechtung und Verfolgung der europäischen Juden in der Nazi-Zeit, die zur industriellen Vernichtung von sechs Millionen Menschen führte. Einer der vielen Unterschiede ist, dass Islamismus aktuell ein reales Problem ist.

Es ist erstaunlich zu beobachten, dass genau diejenigen, die nach den rassistischen Morden in Hanau den Anspruch erhoben haben, für „die muslimischen Opfer“ unter den neun Toten zu sprechen, sich jetzt hinter der Ausrede verstecken: „Das hat nichts mit mir zu tun.“ Nach dem Motto: Muslimische Opfer gehören zu uns, muslimische Täter nicht.

In den vergangenen Jahren wurde erfreulicherweise viel dafür getan, damit antimuslimischer Rassismus von Gesellschaft und Politik anerkannt wird. Wir müssen uns aber auch der unbequemen Frage stellen, wann traditionelle Gemeindestrukturen und dogmatische Erziehungsideale offene Flanken für islamistische Deutungsangebote bieten können. Wenn wir in einer pluralen Demokratie in Europa leben, muss in der religiösen Bildung auch die Fähigkeit vermittelt werden, Kritik aushalten zu können. Wäre es ein Anfang, wenn das Werk von Salman Rushdie als Teil der religiösen Bildung behandelt werden würde?

Saba-Nur Cheema ist Politikwissenschaftlerin und pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank.

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