Dschihad Daham – Seite 1

Mit dem Anschlag am 2. November in Wien endet auch das, was man einen glücklichen, österreichischen Sonderweg nennen könnte. Der Angriff in Wien war der erste islamistische Terroranschlag in dem Land.

Das ist bemerkenswert, weil die islamistische Szene in Österreich alles andere als schwach ist. Sie sei vielmehr seit Jahren im Land aktiv, sagt der österreichische Nahost-Wissenschaftler Thomas Schmidinger. Besonders in den Jahren 2014 und 2015 seien zahlreiche österreichische Bürger nach Syrien ausgereist, um sich dort dem selbst ernannten Islamischen Staat anzuschließen. 320 waren es laut Verfassungsschutzbericht von 2018 insgesamt, die dort oder im Irak für den IS kämpften oder es zumindest vorhatten. Zum Vergleich: Aus Deutschland, das fast zehnmal mehr Einwohner hat als Österreich, machten sich nach Auskunft des Innenministeriums 1.070 Personen insgesamt auf den Weg zum IS.

Der Salzburger Politikwissenschaftler Farid Hafez erklärt das auch mit der hohen Zahl tschetschenischer Flüchtlinge in Österreich. Sie seien womöglich neben Glaubensgründen biografisch motiviert in den Dschihad für den IS gezogen, "um sich an Russland als Alliiertem Syriens zu rächen". Wenn diese IS-Kämpfer nach Österreich zurückkehren, werden sie zur heimischen Gefahr – aus Sicht des Verfassungsschutzes sogar zur größten für die Sicherheit Österreichs. 

Der mutmaßliche Wiener Attentäter aber gehört eher zu einer zweiten Gruppe von Islamisten, die der Verfassungsschutz nennt: radikalisierte Kleinstgruppen und Einzeltäter ("lone actors") aus dem "home-grown-Extremismus", wie es im Verfassungsschutzbericht heißt. Von diesen gehe ein beträchtliches Bedrohungspotenzial aus. Das Internet spiele bei der Radikalisierung von Einzeltätern eine bedeutende Rolle, da in sozialen Netzwerken und einschlägigen Onlineforen spezielle islamistische Inhalte abgerufen werden könnten.

Im Internet radikalisierte sich wahrscheinlich auch der 14-Jährige aus St. Pölten, der offenbar einen Sprengstoffanschlag auf den Wiener Westbahnhof plante. 2017 wurde der Wiener Islamist Lorenz K. bekannt, der Pläne für Anschläge in Deutschland hatte und schon eine erste Bombe gebastelt hatte. Diese Versuche konnten die Behörden, teils in internationaler Zusammenarbeit, vereiteln.

Der bisher wohl bekannteste österreichische islamistische Terrorist ist Mohamed Mahmoud. Mahmoud wurde 1985 in Wien geboren, hatte schon früh Kontakte zu al-Kaida und saß bereits von 2007 bis 2011 im Gefängnis, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. So, wie auch der jetzige mutmaßliche Attentäter bereits im Gefängnis gesessen hatte. In beiden Fällen hat diese Zeit in der Obhut des Staates die islamistische Gewaltbereitschaft offenbar eher noch gestärkt. Der Wiener Tatverdächtige nahm im Gefängnis an einem Deradikalisierungsprogramm teil und wurde auch deshalb vorzeitig aus der Haft entlassen. Dass dieses Programm bei ihm nun offenbar auf fatale Weise erfolglos war, dürfte zu einer Debatte zum Umgang mit jenen Islamisten führen, die der Staat bereits unter Kontrolle zu haben meint.

Mahmoud ging 2011 nach seiner Freilassung nach Deutschland, bevor er es 2015 nach Syrien schaffte. Als der IS ein Video veröffentlichte, auf dem Mahmoud im syrischen Palmyra einen Gefangenen erschießt, wurde er in seiner österreichischen Heimat noch bekannter. Mahmoud hatte auch Verbindungen zum Chefideologen des IS Turkī al-Binʿalī, was ihn eine Zeit lang als wichtiger erscheinen ließ, als er es beim IS wohl tatsächlich war. Im November 2018 soll Mahmoud bei einem Luftangriff auf ein IS-Gefängnis getötet worden sein.

Dass Österreich selbst bisher von Anschlägen verschont geblieben war, könnte nicht nur Zufall gewesen sein, sondern auch Folge der zurückhaltenden Außenpolitik. Anders als beispielsweise Frankreich oder Großbritannien schickt Österreich keine Soldaten in Auslandseinsätze, beispielsweise in den Irak oder nach Afghanistan, die viele Islamisten als Angriff auf Muslime deuten und dann mit Anschlägen vergelten wollen.

Weil es in Österreich bisher keine erfolgreichen islamistischen Anschläge gab, sind auch, anders als in Deutschland, die Debatten über neue, erweiterte Befugnisse der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Islamisten ausgeblieben. Das könnte sich nun ändern.

Wie sich Islam und islamistischer Terror zueinander verhalten

Politisiert ist das Thema in Österreich aber schon lange. Die rechtspopulistische FPÖ, aber auch die ÖVP von Bundeskanzler Sebastian Kurz, sieht die Bedrohung durch islamistischen Terror in direkten Zusammenhang mit dem, was sie politischen Islam nennen. Erst in diesem Sommer hat die Regierung aus ÖVP und Grünen eine Dokumentationsstelle politischer Islam eingerichtet, die diese "gefährliche Ideologie" untersuchen und bekämpfen und dafür auch Vereine und Netzwerke durchleuchten soll, wie die zuständige Integrationsministerin Susanne Raab sagte. Raab betonte zwar, man wolle zwischen Islam und politischem Islam unterscheiden, viele österreichische Musliminnen und Muslime fürchten aber, dass die Dokumentationsstelle im Gegenteil dazu diene, die Grenzen zwischen persönlichem Glauben und islamistischer Gewaltbereitschaft auch in der öffentlichen Debatte zu verwischen. Der Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich hatte die Stelle als "Überwachungsapparat für die muslimische Bevölkerung" kritisiert.

Im wissenschaftlichen Beirat der Dokumentationsstelle sitzt auch Heiko Heinisch. Der Historiker hat zuletzt das Buch Im Namen Allahs geschrieben und hofft nun, dass nach dem Anschlag in Wien "nicht nur über die Dschihadisten geredet wird, sondern auch über die, die ihnen den Boden bereiten: die Organisationen des politischen Islam". Heinisch meint damit unter anderem die Moscheeverbände Millî Görüş, die Muslimbruderschaft und die türkische Diyanet. Er ist der Meinung, "dass sie letztlich das gleiche Ziel haben wie die Terroristen, nämliche eine islamische Weltgemeinschaft, ein globales Kalifat, und sich nur in der Wahl der Mittel unterscheiden".

Politikwissenschaftler Hafez widerspricht Heinisch energisch. "Millî Görüş, Ditib – die Moscheegemeinden sind nicht das Problem des Dschihadismus", sagt er. Die akademische Wissenschaft sei sich einig: Die Islamisten rekrutierten vor allem abseits der Moscheen. Das sehe auch der Verfassungsschutz so. Er hält es für "hochproblematisch", das alles unter dem Stichwort des politischen Islam in einen Topf zu werfen. Die Wissenschaft nehme das nicht besonders ernst.

Mit dem Anschlag dürfte also in Österreich neben der sicherheitspolitischen Debatte nun auch dieser Streit sich zuspitzen: Wie sich eigentlich Islam, Islamismus und islamistischer Terror zueinander verhalten und welcher politische Umgang damit richtig ist, wo Politik abgrenzen und bekämpfen sollte – und wo in Mitverantwortung nehmen.

Mitarbeit: Paul Middelhoff