Am Abend nach dem Anschlag betet Salim Mujkanovic mit mehr als 40 anderen Muslimen auf einem dunkelroten Teppichboden. "Allahu akbar", sagt er dabei zwölf Mal in zehn Minuten, die Worte gehören zu seinen Gebeten. Am Abend zuvor hatte diese Worte ein islamistischer Täter geschrien, der Menschen in der Wiener Innenstadt tötete, nur wenige Kilometer entfernt. "Islamisten wie er missbrauchen Allah", sagt Mujkanovic und verzieht das Gesicht vor Ekel.

Mujkanovic ist 41 Jahre alt und Imam im islamischen Zentrum in Wien, der einzigen Moschee der Stadt, der man ansieht, dass sie eine ist. Die Treppen vor dem Gebäude sind beleuchtet, das hohe Minarett rechts vom Eingang ist in den Abendstunden gut zu erkennen. Im Inneren haben die Gläubigen vor dem Abendgebet ihre Schuhe ausgezogen, die Frauen beten oben, die Männer unten. Unter Kronleuchtern haben sie Teppiche ausgerollt, gelbe Klebebandstreifen auf dem Boden sorgen dafür, dass sie genügend Abstand zueinander haben. Sie stehen gemeinsam auf, heben die Arme, gehen wieder in die Knie, flüstern. Zwei Bildschirme an der Wand zeigen ihr Gebet auf Arabisch und Deutsch. Worte wie "Coronavirus" und "Trauertag" flimmern in Weiß auf grünem Hintergrund. Mujkanovic betet in der ersten Reihe, neben ihm ein zweiter Imam, der ihn heute unterstützt. "Wir schaffen das nur zusammen", sagt Mujkanovic.

Angst um die Gemeinde

Als am Abend zuvor ein Mann mit einem Sturmgewehr, einer Pistole und einer Machete in einem Ausgehviertel in der Wiener Innenstadt vier Menschen tötete und mindestens 22 Menschen schwer verletzte, saß Mujkanovic mit seiner Frau auf dem Sofa und sah fern. Sein Smartphone vibrierte ständig. "Ich war entsetzt, als ich die Meldungen las", sagt er. Sofort stellte er den Sender auf Nachrichten um. Erst habe er sich gesorgt, dass vielleicht Freunde oder Verwandte unter den Opfern sein könnten. Dann, dass der Täter ein Muslim sein könnte. "Bitte nicht, Allah, steh uns bei", habe er zu seiner Frau gesagt. Wenige Stunden später war klar: Der Täter berief sich auf den Islam. "Ich konnte die Nacht kaum schlafen", sagt Mujkanovic. Zwar habe er den Täter nie gesehen, das habe ihn erleichtert. Doch schnell sei die Erleichterung dem Mitgefühl mit den Opfern gewichen – und der Angst um seine Gemeinde.

Imam Salim Mujkanovic war erschüttert, als er von der Tat erfuhr. Jetzt macht er sich auch Sorgen um seine Gemeinde. © David Gutensohn

Mujkanovic trägt eine Takke, eine islamische Kopfbedeckung für Männer, dazu einen Anzug, seine Misbaha, die Gebetskette, steckt griffbereit in der Hosentasche. Er ist sichtbar Muslim, auch sein Bart, links und rechts rasiert, ab dem Kinn lässt er ihn wachsen, deutet darauf hin. Bisher habe er als Muslim nur ab und zu Anfeindungen erlebt, alle paar Wochen ein paar Drohmails oder eine rassistische Schmiererei auf dem Boden vor der Moschee, sagt er. Vor allem im Wahlkampf aber hätten gewisse Politiker die Angst vor einer Islamisierung geschürt, auch habe es hin und wieder Angriffe auf Muslime gegeben, doch in Wien komme das selten vor. Ob sich das nun ändern könne? Mujkanovic legt eine lange Denkpause ein und sagt: "Hoffentlich nicht."

"Jetzt passiert das plötzlich in der eigenen Stadt"

Mujkanovic ist 1992 vor dem Jugoslawien-Krieg aus Bosnien nach Österreich geflohen, hat Maschinenbau studiert, wurde religiöser und ließ sich in Medina zum Imam ausbilden. Zurück in Wien übernahm er den freien Posten am Islamischen Zentrum. Immer wieder sei er in dieser Funktion mit Islamismus konfrontiert gewesen, sagt er. Beispielsweise als es die Anschläge in Paris gab und auch vergangene Woche, als ein Attentat Nizza erschütterte. Noch in der vergangenen Freitagspredigt habe er deutlich gemacht, dass diese Taten nicht mit dem Islam vereinbar seien und wie abscheulich er sie finde. "Und jetzt passiert das plötzlich in der eigenen Stadt." Er habe das nie für möglich gehalten, obwohl er wisse, dass es Islamisten in Österreich gibt.

Mindestens 320 Menschen aus Österreich sind laut dem Verfassungsschutzbericht seit dem Jahr 2014 in den Irak oder nach Syrien gereist, um sich dem selbsternannten "Islamischen Staat" (IS) anzuschließen. Darunter waren auch Bürger aus Wien, meistens über das Internet angeworben. Der Verfassungsschutz schloss im Zuge der Ermittlungen eine radikale Moschee in der österreichischen Hauptstadt. "Zum Glück", sagt Mujkanovic.

Nach dem Gebet sitzt Mujkanovic in der Bibliothek des Zentrums, hinter ihm stehen Koranausgaben und theologische Bücher, die Gläubige hier lesen können. Seine Gemeinde tue viel dafür, dass sich Muslime nicht radikalisierten, sagt Mujkanovic. "Wir versuchen zum Beispiel online zu erklären, wer der Prophet Mohammed, Friede sei mit ihm, wirklich ist", sagt er. Schon mehrfach habe er zwei junge Österreicher im Gefängnis besucht, die erst konvertiert seien und dann in Syrien und im Irak für den "Islamischen Staat" gekämpft hätten. Beide seien verletzt zurückgekommen und hätten in Haft gemusst. "Ich habe lange mit ihnen geredet, ihnen erklärt, dass Allah für Gewaltlosigkeit steht", sagt er. Einer der beiden sei mittlerweile frei und führe ein geregeltes Leben. Von dem anderen wisse er nicht, was aus ihm geworden sei.

Versöhnen, nicht spalten

Auch der Täter von Wien, ein 20-jähriger Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln, wurde im vergangenen Jahr aus der Haft entlassen, weil er an einer Maßnahme zur Deradikalisierung teilgenommen hatte. "Wie kann so etwas geschehen?", fragt Mujkanovic. Das müsse aufgearbeitet werden, genau wie die Tatsache, dass der Täter augenscheinlich vor der Tat von den Sicherheitsbehörden beobachtet worden sei.

"Wir kämpfen, wo immer es geht, gegen Islamismus an", sagt Mujkanovic. Als in der vergangenen Woche 50 junge Muslime aus Protest gegen die Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu den Mohammed-Karikaturen in die Wiener Antonskirche eindrangen und "Allahu Akbar" skandierten, habe er das verurteilt. "Ich versuche zu versöhnen, nicht zu spalten", sagt Mujkanovic. Das Letzte, was Muslime in Österreich gebrauchen könnten, sei eine weitere Polarisierung der Gesellschaft.