Pädagogische Probleme muss man pädagogisch lösen – Seite 1

Nachdem der französische Lehrer Samuel Paty ermordet wurde, weil er im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, meldeten sich auch deutsche Lehrer und Lehrerinnen, die über Bedrohungen und Versuche der Einschüchterung berichteten. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Hier erklärt er, vor welchen Herausforderungen Lehrkräfte stehen, wenn sie kontroverse, interkulturell oder religiös sensible Themen im Unterricht behandeln wollen oder müssen. Und welche Unterstützung sie dabei brauchen, Probleme möglichst pädagogisch zu lösen, wie er es fordert.

Ich habe sechs Jahre als Referendar und Lehrer für die Fächer Deutsch und Sozialwissenschaft an einem Gymnasium im Ruhrgebiet gearbeitet und war selbst mit demokratiefeindlichen Situationen konfrontiert. Mir wurden darüber hinaus viele solche Begebenheiten von meinen Kollegen und Kolleginnen zugetragen. Beispielsweise, dass ein 15-jähriger weiß-deutscher Schüler die Jungentoilette mit zahlreichen Hakenkreuzen beschmiert habe. Die Schule hat sich entschieden, diese Sache als pädagogisches Problem zu verstehen und zu lösen.

Niemand hat die Polizei gerufen. Das Kollegium hat diese Sache ernst genommen und es folgten mehrere Gespräche mit dem Jungen und seinen Eltern. Die Tat wurde im Unterricht thematisiert, aber die Kollegen und Kolleginnen haben diesem Heranwachsenden kein geschlossenes rassistisches Weltbild oder eine Gefahr für Leib und Leben der Schulgemeinde unterstellt. Ich habe über Rassismuserfahrungen von Referendaren und Referendarinnen und Lehrerinnen und Lehrern mit sogenanntem Migrationshintergrund promoviert und dabei zum Beispiel einen Fall dokumentiert, in dem ein Schüler zu seiner Lehrerin of Color gesagt hat: "Von dir lasse ich mir nichts sagen, du scheiß Ausländerin, du bist keine richtige Lehrerin. Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist."

1. Pädagogische Probleme mit pädagogischen Mitteln lösen

Ich habe die Rassismuserfahrungen von insgesamt 159 Lehrerinnen untersucht und anschließend zehn Interviews geführt; auch in diesen Fällen hat niemand die Polizei gerufen, wenn sich Schülerinnen und Schüler oder Kolleginnen und Kollegen rassistisch geäußert haben. Und so soll es auch sein. Meine erste Forderung lautet also: Pädagogische Problemlagen sollten zunächst mit pädagogischen Mitteln thematisiert und gelöst werden. Der Berliner Lehrerin, die die Polizei alarmiert hat, als ihr elfjähriger Schüler ihr mit Gewalt und Enthauptung gedroht hat, möchte ich Mut und viel Kraft zusprechen. Lassen Sie sich bitte nicht einschüchtern und verängstigen.

Wann muss man doch die Polizei rufen?

Ich hoffe sehr, dass Sie weiterhin in der Lage sein werden, Ihre wichtige Arbeit fortzuführen. In dem konkreten Fall sollte es aber von Schulseite mit dem Schüler und seinen Eltern intensive Gespräche geben, um den Grund für diese Aussage des Schülers zu ermitteln. Außerschulische Partner, die sich pädagogisch mit Extremismusprävention beschäftigen, sind hilfreich und sollten in diese Gespräche eingebunden werden.

Aber einem elfjährigen Kind, das noch strafunmündig ist, sollte kein geschlossenes islamistisches Weltbild attestiert werden. Analog zu dem Fall des 15-jährigen Schülers, der die Jungentoilette mit Hakenkreuzen beschmiert hat, also mit dem Symbol des millionenfachen, fabrikmäßigen Mordes, wäre eine pädagogische Lösung sinnvoll. Manchmal ist es natürlich unumgänglich, die Polizei einzuschalten, wenn wirklich Gefahr für die betreffende Lehrerin oder den Lehrer besteht, weil etwa klar wird, dass das Umfeld des Schülers aus bewaffneten Reichsbürgern oder gewaltbereiten Islamisten besteht.

2. Alle demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Positionen gleichermaßen ablehnen

Meiner Meinung nach kommt es jedoch in der schulischen Realität zu doppelten Standards: Oftmals kommt es nicht nur darauf an, was in der Schule Menschenverachtendes oder Demokratiefeindliches gesagt wird, sondern häufig wird genau darauf geschaut, wer es sagt. Wenn vermeintliche oder faktische muslimische Schüler und Schülerinnen etwas Menschenverachtendes sagen, dann wird das oft als bedrohlicher empfunden, als wenn es nicht-muslimische Schüler und Schülerinnen sagen. Meine zweite Forderung lautet deshalb: Beachten Sie bei allen Kindern und Jugendlichen den folgenden Grundsatz: Pädagogische Professionelle besitzen die Verantwortung, alle Schüler und Schülerinnen gleichermaßen wertzuschätzen, aber demokratiefeindliche und menschenverachtende Positionen gleichermaßen abzulehnen. Von muslimischen Kindern geht nicht mehr oder weniger Gefahr aus als von nicht-muslimischen.

Menschlichkeit, Zusammenhalt und Nächstenliebe sind universelle Werte. Oftmals, und das habe ich in meiner eigenen pädagogischen Praxis erlebt, möchten weiß-deutsche Schüler und Schülerinnen provozieren, wenn sie rechte Parolen übernehmen. In den seltensten Fällen besitzen diese Kinder und Jugendlichen ein geschlossenes rassistisches Weltbild. Das Provokationspotenzial muslimischer Schüler liegt eher im islamistischen Spektrum. Diese Provokationen verdienen unterrichtliche und zwischenmenschliche, aber keine sicherheitspolitische Aufmerksamkeit. Genau an dieser Stelle setzt unser gemeinsamer Bildungsauftrag an. Ich möchte nichts kleinreden, aber die Ungleichbewertung demokratiefeindlicher Situationen hilft Lehrerinnen für ihre anspruchsvolle Arbeit nicht weiter.

3. Lehrer und Lehrerinnen mit Demokratiefeindlichkeit nicht allein lassen

Sie sollten stattdessen langfristige, nachhaltige und konstruktive Lösungen finden, um Heranwachsende auf ein verantwortungsbewusstes Leben in unserer Demokratie vorzubereiten. Meine dritte Forderung lautet deshalb: Lehrer und Lehrerinnen dürfen nicht mit Demokratiefeindlichkeit (sei es Islamismus, Antisemitismus oder Rassismus) allein gelassen werden, vielmehr müssen sie sowohl in der ersten und zweiten Phase der Lehrerinnenbildung als auch im Zuge von Lehrerinnenfortbildungen umfassende, fächerübergreifende Konzepte und Strategien der Thematisierung demokratiefeindlicher Einstellungen erlernen. Demokratische Wertevermittlung ist eine zentrale Querschnittsaufgabe aller Lehrerinnen, ungeachtet ihrer Unterrichtsfächer. Wünschenswert ist eine Verpflichtung zur Weiterbildung von Lehrern und Lehrerinnen – analog zur Ärzteschaft –, sodass sie in einem bestimmten Zeitraum eine bestimmte Anzahl von Fortbildungspunkten sammeln müssen.

Lehrer brauchen multiprofessionelle Teams und Hilfe von Experten

Diese Fortbildungen sollten Themen wie Islamismus, antimuslimischen Rassismus, Antisemitismus, Heteronormativität, Sexismus, Klassismus und Adultismus einschließen. Zu diesem Zweck müssen die Fortbildungsbudgets unserer Schulen vom Bund oder von den Bundesländern aufgestockt werden. Zudem sollten Pädagogen mit gesellschaftlichen Problemlagen nicht alleine fertig werden müssen. Die Expertise außerschulischer Partner wird von Schulen nach wie vor zu selten genutzt. Das muss sich ändern.

4. Aufbau multiprofessioneller Teams in Schulen vorantreiben

Schule und außerschulische Bildungsträger sollten als Bildungspartner betrachtet werden. Die Realisierung dieser Bildungspartnerschaft benötigt personelle und finanzielle Ressourcen, die jeder einzelnen Schule vom Bund beziehungsweise von den Bundesländern zur Verfügung gestellt werden müssen. Demokratiepädagogik gibt es nicht zum Nulltarif. Deshalb lautet meine vierte Forderung: Jede einzelne Schule muss den Aufbau multiprofessioneller Teams aus Lehrkräften, Schulsozialarbeiterinnen und Schulpsychologen vorantreiben sowie die Dienste außerschulischer Partner in Anspruch nehmen.

Beispielsweise beschäftigt sich der Berliner Verein Ufuq e.V. seit Jahren mit der gleichzeitigen Thematisierung von Islamismus und antimuslimischem Rassismus. Auch der Düsseldorfer Verein Wegweiser berät seit Jahren Pädagoginnen und Pädagogen zum Thema Salafismus und bietet diesbezüglich Workshops an. Des Weiteren wissen wir zu wenig über Radikalisierungsprozesse bei Schülern und Schülerinnen.

5. Wissenschaftliche Studien zur Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen

Daher lautet meine fünfte Forderung: Wir benötigen wissenschaftliche Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, warum und wie sich Kinder und Jugendliche (in jedwede Richtung) radikalisieren. Diese Studien sind notwendig, weil empirische Befunde die Basis von praxisrelevanten Handlungsempfehlungen sind.