Ausgabe Dezember 2020

Coronaleugnung mit Gewalt: Keine Toleranz der Intoleranz!

Demonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, Leipzig, 21.11.2020 Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten bei einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen Leipzig

Bild: imago images / opokupix

Am 7. November demonstrierten 20 000 »Querdenker« in der Leipziger Innenstadt gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Unter den Demonstrierenden befanden sich zahlreiche Hooligans und Rechtsextreme, die sowohl Journalisten als auch Polizisten angriffen. Der Politologe Moritz Kirchner formuliert zwölf Thesen, wie eine demokratische Gesellschaft damit umgehen sollte.

Erstens: Bis heute gibt es keine funktionierende Strategie gegen diese Demonstrationen. Die Teilnehmenden widersetzen sich mit Ansage den Infektionsschutzvorgaben, fahren maskenlos mit dem öffentlichen Nahverkehr und dulden gewaltbereite Hooligans und Rechtsextreme ohne Abgrenzung in ihren Reihen. Trotz den Erfahrungen mit der ersten „Querdenken“-Demo vom August misslang bereits in Berlin der Versuch, eine weitere Demonstration der Initiative zu verhindern. In Leipzig sollte sie an den Stadtrand verlegt werden, was ebenfalls juristisch untersagt wurde. Es wird folglich nicht die letzte Demonstration dieser Art gewesen sein, die Polizei und Politik mit dem Aufruf zum Widerstand vorführt. Was wir jetzt brauchen, ist ein Verständigungsprozess aller demokratischen Kräfte, wie mit solchen Demonstrationen inmitten einer pandemischen Lage umgegangen werden kann.

Zweitens: Die Gerichte sind aus gutem Grund unabhängig. Dennoch spielen sie beim Umgang mit den „Querdenken“-Demonstrationen zum Teil keine rühmliche Rolle. Wie kann es sein, dass das Oberverwaltungsgericht Bautzen eine Entscheidung trifft, die absehbarerweise tausende Menschen in Leipzig und anderswo einem Infektionsrisiko aussetzt, das im schlimmsten Fall letale Folgen hat? Wie kann es sein, dass regelmäßig kurz vor Schluss die „Querdenker“ recht bekommen und dafür die Gesellschaft in Geiselhaft genommen wird?

»Es ist zu fragen, warum das OVG Bautzen die zweifellos hoch zu gewichtende Demonstrationsfreiheit über das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit stellt.«

Selbstredend entscheiden Gerichte nach Recht und Gesetz, dennoch gibt es immer einen Ermessensspielraum, in dem auch eine realistische Folgenabwägung stattfinden sollte. Diese war und ist hier schlicht nicht erkennbar.

Drittens: Grundrechte müssen politisch und juristisch gegeneinander abgewogen werden. Angesichts dessen ist zu hinterfragen, warum das Oberverwaltungsgericht Bautzen die zweifellos hoch zu gewichtende Demonstrationsfreiheit über das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gestellt hat. Dass die Begründung für diese Entscheidung erst nach der Demonstration veröffentlicht wurde, ist ein unverantwortliches Vorgehen. Denn die ausdrückliche Genehmigung für ein Auflaufen in der Innenstadt war der Auslöser für all die vorher bereits absehbaren Ereignisse.

Viertens: Bei einer erfolgversprechenden Pandemiebekämpfung ist die Mitwirkung der Bevölkerung die entscheidende Variable. Die Einhaltung der Maskenpflicht wie der Abstandsregeln und die Reduktion von Kontakten tragen maßgeblich zur Eindämmung bei. Sowohl die Polizei als auch die Ordnungsämter wären vollständig überfordert, wollten sie dies flächendeckend kontrollieren. Deshalb ist die freiwillige Akzeptanz und Einhaltung der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung so eminent wichtig. In Leipzig wurde nun wiederholt von einer kleinen Minderheit exemplarisch aufgezeigt, dass das vorsätzliche Nichteinhalten der AHA-Regeln so gut wie keine Konsequenzen hat. Dies wiederum verletzt das Gerechtigkeitsempfinden der übergroßen Mehrheit, welche die Einschränkungen klaglos hinnimmt. Wenn aber die Akzeptanz der Anti-Corona-Maßnahmen seitens der Mehrheit weiter bröckelt, wäre das ein immenser mittelbarer Schaden der Demonstrationen.

»Die Demonstranten inszenieren sich – erfolgreich – als Rebellen.«

Fünftens: Diese Bewegung fühlt sich nun ein weiteres Mal ermutigt. Sie hat regelwidriges Verhalten angekündigt und ebensolches gezeigt. Die Teilnehmer konnten erneut erfahren, dass für sie bestimmte Regeln nicht gelten. Daraus ergibt sich ein Ansporn für weitere solcher Demonstrationen. Damit wird auch ein Gefühl der Einzigartigkeit bestärkt: Die Demonstranten inszenieren sich – erfolgreich – als Rebellen.

Sechstens: Die Befürchtung, die Demonstrationen könnten sich als superspreader event erweisen, haben sich bislang glücklicherweise nicht bestätigt. Allerdings fanden die bisherigen „Querdenken“-Demonstrationen im Sommer statt – in einer Lage, in der es viel weniger Infizierte gab. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass sich die jüngste Demonstration in Leipzig im Nachhinein doch noch als ein solches Ereignis entpuppt. Dies aber hätte nicht nur Auswirkungen in Leipzig, da die Teilnehmenden aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren – und sich häufig aus ideologischer Überzeugung auch bei der An- und Abreise nicht an die Maskenpflicht hielten. Denn in ihrem Verschwörungsglauben existiert Corona entweder gar nicht oder ist nicht gefährlich.

Kombi-Abo Banner Mai

Siebtens: Insbesondere im Freistaat Sachsen besteht das jetzt wieder manifest gewordene Problem, dass die Polizei mit zweierlei Maß misst. Tausendfache vorsätzliche Verstöße gegen Demonstrationsauflagen zogen keine individuellen Konsequenzen nach sich – erst nach stundenlangen erfolglosen Hinweisen der Polizei, doch bitte die Auflagen einzuhalten, wurde die Demonstration für beendet erklärt. Anschließend sah die Polizei dabei zu, wie Hooligans und Rechtsextreme im Schutz der sogenannten Querdenker den Innenstadtring entlangmarschierten, und ließ die nun nicht mehr erlaubte Demonstration lange Zeit weiterlaufen. Bei linken und antifaschistischen Demonstrationen wird hingegen immer wieder mit besonderer Härte reagiert – so auch in der Nacht des 7. November, als Wasserwerfer und Räumpanzer doch noch zum Einsatz kamen, allerdings gegen linke Bewohner des Stadtteils Connewitz.

Achtens: Da weder die Einhaltung der Auflagen hinreichend kontrolliert noch die Auflösung der Demonstration durchgesetzt oder der Marsch durch die Innenstadt unterbunden wurden, trifft der unter anderem seitens der Linkspartei erhobene Vorwurf des Staatsversagens zu. Vor allem die körperlichen Übergriffe, insbesondere gegen Journalistinnen und Journalisten, zeigen, dass der Staat am 7. November in Leipzig nicht mehr das Gewaltmonopol innehatte. Und dass er seine ureigene Aufgabe, nämlich den Schutz der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, nicht erfüllt hat. Die parlamentarische Aufbereitung dessen ist dringend geboten; ein Untersuchungsausschuss ist hierfür eine realistische Option.

»Es darf keinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer gewaltbereiten und teils offen antidemokratischen Minderheit geben.«

Neuntens: Das, was geschehen ist, hätte aus den genannten Gründen nicht passieren dürfen. Der sächsische Innenminister trägt dafür die politische Verantwortung; sein Rücktritt wäre die richtige Konsequenz.

Zehntens: Durch die „Querdenken“-Demonstration wurde das Demonstrationsrecht auf eine Weise missbraucht, die der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zuwiderläuft. (Besonders getroffen sind dadurch die sächsischen Bündnisgrünen, die sich innerhalb der Kenia-Koalition aus Sorge um die Demokratie in Zeiten der Pandemie stark für das Demonstrationsrecht eingesetzt haben.)

Elftens: Das inhärente Grundproblem der Querdenken-Demonstrationen ist die ihnen innewohnende sich selbst erfüllende Prophezeiung. Ihre Initiatoren warnen vor Autoritarismus, Diktatur und demokratischen Einschränkungen, obwohl sie weiterhin demonstrieren können, die Nutzung der Corona-App freiwillig ist und niemand „zwangsgeimpft“ wird. Je mehr sich die Demonstrierenden allerdings den Regeln widersetzen, umso mehr Repression wird nötig sein, von handfesten Demonstrationsauflösungen über Verbote bis hin zu Verhaftungen. Das aber stärkt wiederum das Narrativ der Demonstranten – ein Teufelskreis. Dennoch darf es keinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer gewaltbereiten und teils offen antidemokratischen Minderheit geben.

Zwölftens: Das Framing des „Querdenkens“ muss endlich offensiv angegangen werden. Vielleicht ging es einem Teil der Demonstrierenden anfangs tatsächlich um eine andere Perspektive und sinnvolle Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen. Zunehmend aber bestimmen Gesetzesbrüche, radikales Gedankengut und Gewalt das Bild. Das muss klar benannt werden. Unsere Demokratie basiert nicht zuletzt auf der Prämisse, dass es keine Toleranz gegenüber der Intoleranz geben darf.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Tradition und Neugierde

von Carl Wilhelm Macke

Wer Anfang der 1970er Jahre in Hannover studierte und mit dem vorgefundenen Zustand der Welt irgendwie nicht einverstanden war, kam am theoretischen Epizentrum der lokalen Studentenszene nicht vorbei: der Fakultät V in der Wunstorfer Straße. Dort waren die Studierenden ihrem eigenen politischen Selbstverständnis nach entweder links oder noch weiter links.

Gegen das Untergangsdenken

von Christian Jakob

Vier Monate bevor sie vor jetzt fünf Jahren, am 20. August 2018, ihren berühmten „Schulstreik für das Klima“ startete, hatte Greta Thunberg getwittert: „Ein führender Klimawissenschaftler warnt, dass der Klimawandel die gesamte Menschheit auslöschen wird, wenn wir in den nächsten fünf Jahren nicht aufhören, fossile Brennstoffe zu nutzen.“