Noch zwei Wochen bis Silvester. Sie können es wahrscheinlich kaum erwarten, 2020 in die Tonne zu treten. Geht mir auch so. Nur: So schlecht war dieses Jahr nicht. Vielerorts war es sogar ermutigend.

Keine Sorge, ich habe nichts getrunken oder geschluckt, um mir die Lage schönzureden. Ich glaube nur, dass wir – eingewickelt in die mediale deutsche Dauerschleife aus RKI-Zahlen, Hart aber fair und dem Auswurf von Quer- und Nichtdenkern – vieles verpassen. Draußen in der Welt war nämlich einiges los in diesem Jahr. Auch und gerade auf unserem Nachbarkontinent.

Nicht, dass die Prognosen für Afrika besonders rosig wären. Die Gleichzeitigkeit von Pandemie(n), Klimawandel und Krise des Wachstumsmodells wird bei uns immer noch als Zukunftsmusik gehört, in Afrika ist sie Realität. Dazu kommt in vielen Ländern ein politischer Backlash. Corona kam einigen Staatschefs wie gerufen, um die Zivilgesellschaft zu drangsalieren oder sich eine fragwürdige Wiederwahl zu organisieren.

Feministischer Aufruhr gegen Killerkommandos

Womit man bei der Ermutigung wäre. Denn die Wut auf alte, unfähige Patriarchen wird immer größer, die Forderung nach einem halbwegs funktionierenden Gemeinwesen immer lauter, der Protest kreativer, die politischen Forderungen werden im besten Sinne des Wortes radikaler. Beispiele?
Hier zwei meiner persönlichen Favoriten für das Jahr 2020:

Zuerst die Feminist Coalition aus Nigeria, ein Zusammenschluss von Unternehmerinnen, Bloggerinnen und IT-Entwicklerinnen. Anfang Oktober waren junge Nigerianerinnen und Nigerianer zum wiederholten Mal gegen eine Spezialeinheit der Polizei, die Special Anti-Robbery Squad (SARS), auf die Straße gegangen, die seit Jahren wie ein Killerkommando immer wieder junge Männer wegen "verdächtig" teurer Kleidung oder Smartphones erschossen hatte. Die Proteste wären wohl auch dieses Mal verpufft, hätte nicht die Feminist Coalition mit einer globalen Onlinespendenkampagne Ambulanzen, Verpflegung, Schutzmasken (gegen Corona und Tränengas), Rechtshilfe und eine Notrufzentrale für die Demonstrierenden organisiert.

#EndSARS wurde zur Massenbewegung über ethnische und religiöse Gräben hinweg und rüttelte das Land durch, die Polizeieinheit wurde aufgelöst, doch es ging längst um mehr: um einen Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft gibt. Happy End? Nein. Wir sind hier nicht in Hollywood. Die Proteste sind nach einem Massaker der Armee mit mindestens zwölf toten Demonstrierenden weitgehend zum Stillstand gekommen.

Aktivistinnen und Aktivisten wurden die Reisepässe abgenommen oder die Konten gesperrt. Aber im Netz laufen nun Diskussionen über die Gründung von Parteien, über Kampagnen für eine Wahlrechtsreform und die Mobilisierung von Jungwählern, über Wege aus der dramatischen sozialen Ungleichheit im Land. Und noch eines hat die Feminist Coalition mit angestoßen: die Vernetzung zwischen einer Bürgerrechtsbewegung des globalen Nordens und des globalen Südens, zwischen Black Lives Matter und #EndSARS. Das hat es seit den Zeiten von Martin Luther King Jr. nicht mehr gegeben.

Klimaaktivismus um zwanzig nach zwölf

Platz zwei auf meiner Liste: Power Shift Africa (PSA). Keine NGO, auch keine Protestbewegung, sondern ein Thinktank in Kenias Hauptstadt Nairobi. Power steht hier vor allem für Energiegewinnung. PSAs junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beraten Afrikas noch kleine Klimaschutzgruppen, legen offen, wo bei den Energiewenden afrikanischer Staaten den Worten Taten folgen, wo geschummelt oder gelogen wird. PSA-Gründer Mohamed Adow hatte unlängst auch ein paar deutliche Worte für den Westen übrig.

Adow stammt aus einer Gemeinschaft von Viehhirten im Norden Kenias, deren Herden aufgrund des Klimawandels und immer häufigerer Dürren dezimiert werden. Für seine Angehörigen ist es klimapolitisch nicht zwei vor zwölf, sondern zwanzig nach. Dass jetzt auch Politikerinnen und Politiker in den USA, Europa und China von der Dringlichkeit der Klimakrise erfasst werden, findet er nicht besonders tröstlich, solange ausländische Banken und Energieunternehmen in seinem Land CO2-Dreckschleudern finanzieren wollen.

PSA gehört zu einer Koalition von Naturschutzgruppen, die seit Jahren den Bau eines gigantischen Kohlekraftwerks an der Küste Kenias blockieren. Vor wenigen Wochen zogen sich chinesische und amerikanische Investoren endlich aus dem Projekt zurück, worauf man mal aus ganzem Herzen "Merry Christmas" rufen kann.

Ich könnte Sie jetzt noch weiter durch die Welt unserer afrikanischen Nachbarn schleifen – zur sudanesischen Demokratiebewegung, die gerade neben Klima- und Corona-Krise um das Überleben ihrer Revolution kämpft. Oder zu den Antikorruptionsprotesten dieses Jahr in Mali. Der Punkt ist: Wir bekommen hier in den milden, mittleren Breitengraden Europas gerade einen zarten Vorgeschmack darauf, was es heißt, auf wackeligem Boden zu stehen und mit Ungewissheit und dreieinhalb Krisen gleichzeitig umzugehen. Bevor unser Blick auf Afrika also wieder vollends zusammenschnurrt auf Flüchtlingsboote und Migrationsabwehr, lohnt es sich, etwas genauer auf die Nachbarn zu schauen und zu hören. Vielleicht lässt sich ja das eine oder andere lernen.

In diesem Sinne: Frohe Feiertage – auch wenn sie in diesem Jahr deutlich herber sein werden.