Bestrafen oder versöhnen? – Seite 1

Am 20. Januar wird Joe Biden als nächster Präsident der USA vereidigt. Es ist der Beginn einer neuen Ära, in der wieder Sachpolitik statt persönlicher Interessen eine Rolle spielen soll. Und doch wird ein anderer die Schlagzeilen vorerst weiter beherrschen: Donald Trump. Denn während der Präsident der Vereinigten Staaten durch sein Amt weitgehend vor Ermittlungen geschützt ist, interessieren sich die Strafverfolgungsbehörden für die Privatperson Donald J. Trump umso mehr.

Die New Yorker Staatsanwaltschaft, die bereits seit 2018 wegen diverser Finanzdelikte ermittelt, hat nun Steuerrechtsexperten beauftragt, die Trumps Geschäfte genauer untersuchen sollen. Sollte es zu einer Anklage kommen, wäre Trump davor nicht einmal dann geschützt, wenn er sich präventiv begnadigen ließe – eine solche Begnadigung betrifft nur die Strafverfolgung auf Bundesebene.

Und auch die Zivilgerichte werden mit Trump noch länger beschäftigt sein: Seine Nichte Mary verklagt ihn und zwei seiner Geschwister, weil sie sich um mehrere Millionen Dollar ihres Erbes gebracht sieht. Zudem haben frühere Mieter Klage eingereicht, weil die Trumps bei den Mietkosten ihrer Immobilien getrickst haben sollen. Und dann sind da noch die beiden Frauen, die Trump beschuldigen, sie sexuell missbraucht und später verleumdet zu haben.

In welcher Form sollte die Aufarbeitung geschehen?

Das sind aber nur jene Verfahren, die sich auf Ereignisse vor Trumps Amtszeit beziehen. Spannend wird, ob noch welche dazukommen, die sich mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen. Wird Trump sich am Ende doch noch dafür verantworten müssen, dass er sein Amt auf so vielfältige Weise missbraucht hat? Allein im Bericht des Sonderermittlers Robert Mueller zur Russland-Affäre rund um die Wahl 2016 finden sich zehn Beispiele für eine offensichtliche Behinderung der Justiz. Auch die Begnadigungen, die Trump auf den letzten Metern seiner Präsidentschaft noch ausgesprochen hat, waren mutmaßlich von dem Motiv geleitet, damit das Schweigen ehemaliger Weggefährten zu erkaufen, um so weitere Ermittlungen gegen sich selbst zu behindern. Und das sind nur zwei Beispiele von vielen.

Checks and Balances - Donald Trumps Angriffe auf die Demokratie Eigentlich sollen die Staatsgewalten der USA unabhängig voneinander sein. Wie Präsident Donald Trump versucht hat, sie zu seinen Gunsten zu beeinflussen, erklärt das Video.

All das überschattet auch Joe Bidens Präsidentschaft. Der neue Präsident steht nun vor der schwierigen Aufgabe, das Land wieder zu versöhnen, ohne Trump zu leicht davonkommen zu lassen. Begnadigen wird er seinen Vorgänger nicht, das hat er bereits durchblicken lassen. Dennoch muss er abwägen, wie viel von seiner Zeit und Macht er der Causa Trump widmet. Sollte er die Aufarbeitung von dessen Amtszeit zur Chefsache erklären oder sich heraushalten? Wie viel Härte kann seine Regierung gegenüber dem Trump-Lager walten lassen, ohne dass es politisch motiviert oder wie ein persönlicher Triumph wirkt? Und in welcher Form sollte diese Aufarbeitung geschehen?

Biden steht hier vor einem Dilemma. Zeigt er sich Trump gegenüber nachsichtig, würde das viele seiner eigenen Wählerinnen enttäuschen, die sich wünschen, dass die kommende Amtszeit eine kritische Aufarbeitung der vergangenen wird. Geht er aber mit entschlossener Härte vor, riskiert er, dass die rund 74 Millionen Menschen, die Donald Trump ihre Stimme gegeben haben, sich noch mehr in Hass und Misstrauen gegenüber der demokratischen Partei und den politischen Institutionen hineinsteigern – und die Spaltung der politischen Lager sich weiter vertieft.

Biden könnte einen Untersuchungsausschuss einsetzen

Die Historiker Kevin Kruse und Julian Zelizer von der Princeton University haben schon 2019 einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem sie argumentieren, dass es gar keinen anderen Weg gebe, als Trump schonungslos und in aller Öffentlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Denn das Prinzip der Verantwortlichkeit wiederherzustellen, so argumentieren sie, sei "wichtiger für die langfristige Gesundheit unserer Demokratie als die Heilung der parteipolitischen Spaltung". Tatsächlich ist ja gerade dies der wohl größte Schaden, den Trump der US-amerikanischen Politik zugefügt hat: Indem er sich stets über dem Gesetz sah und seine Partei ihn gewähren ließ, wurde deutlich, dass sich ein Präsident im Prinzip alles herausnehmen kann, solang er nicht aktiv daran gehindert wird. Eine Lücke im System, die nach Trump auch andere ausnutzen könnten.

Nach der Logik, dass dieser Eindruck sich gar nicht erst festsetzen dürfe, haben die Demokraten auch das Amtsenthebungsverfahren gegen Trump angestrengt, obwohl sie wussten, dass es an den Republikanern im Senat scheitern würde. Damals gab es keine politische Mehrheit, die Trump Grenzen aufgezeigt hätte. Symbolisch könnte Biden das nun nachholen, indem er einen Untersuchungsausschuss einsetzt, wie ihn der demokratische Kongressabgeordnete Eric Swalwell vorgeschlagen hat. Oder mehrere, die sich mit einzelnen Themenfeldern beschäftigen, etwa mit Trumps Last-Minute-Begnadigungen, dem Umgang mit der Corona-Pandemie oder den in Käfigen gesperrten Kindern an der mexikanischen Grenze.

Biden muss dabei auch an die Zukunft denken. Alles, was jetzt folgt, wird später als Blaupause dienen. "Hat Mr. Trump seine Begnadigungsbefugnis genutzt, um Verbrechen zu begehen, muss er strafrechtlich verfolgt werden; dies nicht zu tun, würde einen gefährlichen Präzedenzfall für zukünftige Regierungen schaffen", schreibt etwa der Harvard-Verfassungsrechtler Laurence Tribe.

Biden wird sich zurückhalten

Demgegenüber stehen Bedenken, die auch Biden mehrfach geäußert hat: Braucht es jetzt nicht eher den Blick nach vorn, um die gespaltene Gesellschaft zu heilen? Ermittlungen gegen einen früheren Amtsinhaber seien "sehr ungewöhnlich und vermutlich nicht sehr gut für die Demokratie", sagte er noch im Sommer. Andere fordern währenddessen nicht nur Strafverfolgung, sondern eine Art Wahrheits- und Versöhnungskommission. Das wiederum kritisierte die renommierte Historikerin Jill Lepore: "Lasst die Geschichte über Trump urteilen, nicht Parteipolitiker." Eine solche Kommission würde wie ein Tribunal wirken, argumentiert Lepore und sieht auch für ein Strafverfahren gegen Trump weniger Nutzen als Schaden. Was das Land wirklich brauche, sei Selbstreflektion, und zwar von allen Seiten, nicht nur von den Republikanern.

Die Strategie, auf Bestrafung zugunsten von Versöhnungsbemühungen zu verzichten, ist allerdings schon einmal gescheitert. Gerald Ford hatte 1974 seinen gerade noch rechtzeitig zurückgetretenen Vorgänger Richard Nixon begnadigt, um das noch vom Watergate-Skandal erschütterte Land nicht weiter aufzuwühlen. Politisch ging dieser Plan nicht auf. Fords Beliebtheit sank rapide und er verlor die Wahl zwei Jahre später gegen Jimmy Carter.

Biden, so viel steht fest, wird sich zurückhalten. Er hat zuletzt mehrfach klargemacht, dass er all diese Entscheidungen den zuständigen Behörden überlassen will. "Ich werde ihnen nicht sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben", sagte Biden erst kürzlich wieder gegenüber CNN. Es soll gar nicht erst der Eindruck entstehen, dass er die Gewaltenteilung nicht achte – und auch nicht der, dass Donald Trumps Schicksal eine Frage politischer Willensbildung sei. Die künftige Vizepräsidentin Kamala Harris hatte im Rahmen desselben Interviews entsprechende Schwierigkeiten, zu erklären, warum sie als Präsidentschaftskandidatin selbst noch Wahlkampf damit gemacht hatte, dass das Justizministerium unter ihr "keine andere Wahl hätte", als gegen Trump wegen dessen Amtsmissbrauch zu ermitteln.

Einen klareren Fall von Amtsmissbrauch kann man sich nicht vorstellen

Wie kompliziert die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass der vermutlich wichtigste Posten der künftigen Regierung noch nicht besetzt ist. Noch immer hat Biden nicht bekannt gegeben, wer in Zukunft an der Spitze des US-Justizministeriums stehen wird. Der oder die künftige Attorney General muss in die unrühmlichen Fußstapfen William Barrs treten, der die US-Justiz nach Trumps Willen geführt hat. Er oder sie muss gleichzeitig die Reputation des Amts wiederherstellen und das Bedürfnis vieler US-Amerikanerinnen nach Aufklärung befriedigen, aber stets über jeden Verdacht erhaben sein, politisch zu agieren.

Schlussendlich könnte Trump selbst dem Justizministerium die Entscheidung abgenommen haben, ob man gegen ihn vorgehen sollte oder nicht. Am vergangenen Samstag rief er den Staatssekretär von Georgia an und nötigte diesen, 11.780 Stimmen zu "finden", um ihn, Trump, doch noch zum Wahlsieger zu machen (Biden hat in Georgia mit einem Vorsprung von 11.779 Stimmen gewonnen). Die Washington Post veröffentlichte eine Aufnahme des gesamten Gesprächs.

Einen klareren Fall von Amtsmissbrauch kann man sich nicht vorstellen. Danach keine Ermittlungen gegen Trump einzuleiten, wird sich juristisch kaum rechtfertigen lassen.