IS-Frauen in Syrien wollen Heimkehr mit Hungerstreik erzwingen

Die Zustände in den Lagern für IS-Anhänger in Ostsyrien werden immer prekärer. Jüngst gab es mehrere Enthauptungen. Zehn Französinnen wollen nun mit einem Hungerstreik auf ihre Notlage aufmerksam machen.

Christian Weisflog, Beirut
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Im Al-Hol-Camp im Osten von Syrien leben über 60 000 Menschen. Bild aufgenommen im November 2019.

Im Al-Hol-Camp im Osten von Syrien leben über 60 000 Menschen. Bild aufgenommen im November 2019.

Carol Guzy / Imago

Vor zwei Jahren ist das «Kalifat» des sogenannten Islamischen Staats (IS) untergegangen. Seither harren Zehntausende von IS-Anhängern – die Mehrheit von ihnen Frauen und Kinder – in Ostsyrien in Gefängnissen und Lagern aus, ohne zu wissen, wann ihnen ein Prozess gemacht wird. Die Menschen lebten in diesen «schmutzigen Camps» unter Bedingungen, die an Folter grenzten, sagte kürzlich Fionnuala Ni Aolain, die Uno-Sonderberichterstatterin für den Schutz von Menschenrechten im Kampf gegen den Terrorismus.

20 Morde in einem Monat

Am schlimmsten sollen die Zustände im Al-Hol-Camp sein, in dem über 60 000 Menschen leben. Rund 80 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder. Gemäss dem Rojava Information Center kam es in dem Lager jüngst zu einer Gewalteskalation. Allein im Januar wurden demnach zwanzig Personen getötet, zehn von ihnen durch Enthauptungen. Ausser im Falle eines Wächters handelt es sich bei den Opfern stets um Gefangene.

Bei den Tätern muss es sich nicht immer um IS-Extremisten handeln. In den dichtgedrängten Camps können auch alltägliche Streitigkeiten zu Gewaltausbrüchen führen. Die Enthauptungen sprechen jedoch dafür, dass es sich in den meisten Fällen um eine Machtdemonstration hartgesottener IS-Elemente handelt. Am 16. Januar soll ein älterer Iraker öffentlich geköpft worden sein.

Es gibt seit längerem Berichte, dass eine Gruppe überzeugter Jihadistinnen in al-Hol eine eigene Religionspolizei und Gerichtsbarkeit aufgebaut habe. «Das ist eine IS-Stadt – 70 000 Menschen können nicht kontrolliert werden. Wir haben nur genügend Wachpersonal, um Angriffe von aussen zu verhindern», sagte ein Sprecher der kurdisch geführten und von den USA unterstützen Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bereits vor eineinhalb Jahren.

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Inzwischen scheint jedoch auch die Abschirmung von der Aussenwelt immer poröser zu werden. Dem IS gelingt es offenbar, Waffen, Geld, Mobiltelefone und auch Personen ins Lager hinein- und hinauszuschmuggeln. Bei den Morden wurden auch Schusswaffen mit Schalldämpfern benutzt. Eine Flucht aus al-Hol soll zwischen 2500 und 3000 Dollar pro Person kosten. Schätzungsweise 200 Personen haben im vergangenen Jahr das Camp auf diese Weise verlassen.

Die grösste Sorge von Terrorismusexperten ist jedoch, dass Camps wie al-Hol zu Brutstätten für die nächste Jihad-Generation werden. Über 40 000 Kinder leben in dem Lager unter unmenschlichen Bedingungen. Im August starben innerhalb einer Woche acht Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung.

Trotz den prekären Verhältnissen in den Lagern haben europäische Regierungen die Sicherheit der eigenen Bevölkerung bisher über die Grundrechte der Jihad-Reisenden gestellt. Repatriierungen wurden nur in Ausnahmefällen bewilligt, oft handelte es sich um Waisenkinder oder Kinder von Eltern, die sich freiwillig von ihrem Nachwuchs trennten. Auch die Schweiz scheut vor Rückführungen zurück. In mehreren Fällen entzog der Bund stattdessen die Staatsbürgerschaft. Nach Angaben des Nachrichtendienstes befinden sich «derzeit sieben Kinder, die zumindest einen Elternteil mit Schweizer Bürgerrecht haben, im Konfliktgebiet».

Wenn der Jihad zum Albtraum wird

Diese Woche wird in Grossbritannien ein entscheidendes Urteil des Obersten Gerichts zum Fall Shamima Begum erwartet. Sie war erst 15 Jahre alt, als sie mit zwei Freundinnen nach Syrien reiste. Trotzdem entzog ihr die britische Regierung die Staatsbürgerschaft, da die junge Frau immer noch als gefährlich und radikalisiert eingestuft wurde. Begum hat diesen Entscheid rechtlich angefochten.

Mit ganz anderen Mitteln versuchen derzeit zehn in Syrien gefangene Französinnen ihre Rückkehr nach Frankreich zu erzwingen. Gemäss einem Bericht der «New York Times» sind sie in einen Hungerstreik getreten. Die Frauen erklären sich bereit, sich vor französischen Gerichten zu verantworten: «Wir wollen unsere Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlen. Aber es ist Zeit, dass dieser Albtraum endet und wir nach Hause gehen», beteuert eine der Hungerstreikenden in einer Sprachnachricht. «Wir warten in Zelten, in der Kälte, im Winter.»

Die Anwälte der Frauen bestätigten den Hungerstreik am Sonntag auf Twitter. Demnach befinden sie sich im Camp al-Roj: «Einzelne unter ihnen sind sehr krank, andere sind in einem unterirdischen Gefängnis eingesperrt. Alle fühlen sich endlos schuldig für das Leiden ihrer Kinder.» Unter den Frauen sollen sich auch solche befinden, die ihre Kinder nach Frankreich weggegeben haben.

Es gebe keine «brauchbare Entschuldigung» dafür, dass einige Länder sich weigerten, «eine Handvoll» Gefangene zu repatriieren, kritisierte die Uno-Sonderberichterstatterin Ni Aolain. Tatsächlich handelt es sich bei den europäischen IS-Kämpfern in syrischen Gefängnissen um eine Minderheit. Die grosse Mehrheit der rund 10 000 Häftlinge stammt aus Syrien und dem Irak. Weniger als 2000 sind aus Drittstaaten eingereist. Die Zahl der Kinder mit europäischen Wurzeln wird auf 700 geschätzt.

Bisher haben Jihad-Rückkehrer, die es auf eigene Faust nach Europa geschafft haben, dort keine grossen Terroranschläge verübt. Allerdings sind die Bewohner von al-Hol und al-Roj, die zumeist bis zum bitteren Ende im «Kalifat» ausharrten, womöglich stärker radikalisiert. Auch hat die Vergangenheit gezeigt, dass es nur eine Handvoll charismatischer Rattenfänger braucht, um im Untergrund neue Terrorzellen und -netzwerke aufzubauen.

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