„Konfrontative Religionsausübung“ als Synonym für Islamismus?
8. April 2021 | Radikalisierung und Prävention

Symbolbild. Bild: Christian Ferrer@unsplash.com

In Debatten über herausfordernde Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen ist oft von „konfrontativer Religionsausübung“ die Rede. Dabei wird der Begriff zunehmend synonym für „Islamismus“ oder als Hinweis auf ein frühes Stadium einer Radikalisierung verwendet. Doch was ist mit „konfrontativ“ genau gemeint? Götz Nordbruch, Co-Geschäftsführer von ufuq.de, kritisiert in seinem Beitrag eine solche Verwendung des Begriffes: Sie verstellt den Blick auf die Motive, aus denen Jugendliche agieren, und suggeriert eine besondere Dringlichkeit, dieses Verhalten zu sanktionieren.

In aktuellen Beiträgen zu religiös gefärbten Konflikten in der Bildungsarbeit findet sich immer häufiger der Begriff der „konfrontativen Religionsausübung“ (oder „-bekundung“), um provokative und konfliktschürende Einstellungen und Verhaltensweisen insbesondere von muslimischen Jugendlichen zu beschreiben. So steht eine aktuelle Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung unter dem Titel „Konfrontative Religionsausübungen von muslimischen Schülerinnen und Schülern. Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten“. Behandelt werden darin nicht nur Mobbing und das Ausüben von sozialem Druck, sondern auch unterschiedliche Stadien islamistischer Radikalisierung. In einem Bericht der wissenschaftlichen Begleitung des „Berliner Landesprogramms Radikalisierungsprävention“ heißt es mit Bezug auf „radikale Einstellungen und konfrontative Religionsausübung“: „Die Atmosphäre an Schulen, in denen derartige Einstellungen und Probleme gehäuft auftreten, kann Radikalisierungen auslösen bzw. sie beschleunigen.“ (S. 67)

Der Begriff selbst ist nicht neu, sondern tauchte bereits 2013 in einem Vermerk des Landesinstitutes für Lehrerbildung Hamburg auf, in dem „religiös gefärbte Konfliktlagen an Hamburger Schulen“ beschrieben werden. Darunter wurden unter anderem „eine aggressive verbale Konfrontation mit Lehrkräften und Mitschülern“ bzw. „Religionsbezeugungen in konfrontativer Absicht“ gefasst. In der Übersicht über entsprechende Vorfälle in verschiedenen Schulen ging der Verfasser auch auf einen zunehmenden Einfluss von islamistischen und vor allem salafistischen Akteuren ein. Entsprechende Verhaltensweisen wurden hier allerdings nicht zwangsläufig als Ausdruck einer durch islamistische Akteure beförderten Ideologisierung beschrieben: „Es dürfte sich damit in manchen Fällen um eine Strategie aus einem organisierten Vorgehen heraus handeln, in anderen um ein Verhalten lediglich aus individuellem Antrieb.“ (S. 4) In den Handlungsempfehlungen betonte der Verfasser die pädagogische Dimension des Phänomens: Es gehe weniger um eine „rein negatorische Abwehr“ als um die „praktische Gestaltung eines positiven Zusammenlebens“, was eine „demokratiepädagogische Fundierung von Unterrichtsbetrieb und Schulkultur“ (S. 5) voraussetze.

Der Begriff stand ursprünglich für den Versuch, Radikalisierungsprozesse in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen wahrzunehmen und dabei zugleich verschiedene Grade von Konflikthaftigkeit zu unterscheiden. Auch in unserer Arbeit – zum Beispiel in unseren Arbeitshilfen und Handreichungen – versuchen wir, dieses weite Spektrum von jugendlichem Protest und Provokation und islamistischer Ideologisierung sichtbar zu machen und die dahinter liegenden Motive von einander abzugrenzen  – weil es sich eben bei problematischen Verhaltensweisen von Jugendlichen in aller Regel nicht um erste Anzeichen einer Hinwendung zu islamistischen Szenen handelt, sondern um Herausforderungen, die pädagogische, nicht polizeiliche Maßnahmen erforderlich machen. Umso wichtiger ist es, auch in der Verwendung von Begrifflichkeiten Kurzschlüsse und Verkürzungen zu vermeiden.

So stellt das Ausüben von sozialem Druck („Es ist doch Ramadan – warum fastest Du nicht?!“) durch einen Jugendlichen ohne Zweifel ein problematisches Verhalten dar, es hat aber nichts mit den Gewalttaten des „Islamischen Staates“ zu tun. Gerade in einem solchen Kurzschluss liegt aber eine Gefahr, wenn Lehrkräfte alltägliches Fehlverhalten von Jugendlichen unmittelbar als Hinweis auf eine mögliche Radikalisierung deuten – und schulrechtliche Sanktionen und polizeiliche Maßnahmen einleiten. Für die Prävention entsprechender Verhaltensweisen sind solche Schnellschüsse oft kontraproduktiv. Exemplarisch zeigt sich dies im Umgang mit islamistischen Symbolen: Bei einer von Jugendlichen gemalten Fahne des „Islamischen Staates“ auf einer Toilettenwand schrillen schnell alle Alarmglocken, während die meisten Lehrkräfte auf ein Hakenkreuz zunächst mit pädagogischen Maßnahmen reagieren würden. In beiden Fällen geht es allerdings um die Verwendung verfassungswidriger Symbole, also um einen grundsätzlich ähnlichen Regelbruch, auf den sich mit ähnlichen Mitteln reagieren lässt.

Mittlerweile wird der Begriff „konfrontative Religionsbekundung“ gerade in politisch aufgeladenen Debatten häufig als Synonym für islamistische Verhaltensweisen verwendet. So forderte die Initiative „PRO Berliner Neutralitätsgesetz“ die Bildungsverwaltung in Berlin kürzlich dazu auf, ein „Register für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen“ einzurichten. Das Fehlen einer solchen Dokumentationsstelle verhindere, „dass konkrete Gefahrensituationen gerichtsfest dokumentiert werden können.“ Hintergrund dieser Forderung war die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, dass das Verbot des Kopftuches bei Lehrerinnen nur bei einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden gerechtfertigt sei. Dabei erweist sich der Begriff zunehmend als kontraproduktiv. In dieser synonymen Verwendung für „Islamismus“ rückt der Begriff provokative Einstellungen und Verhaltensweisen, die von Jugendlichen „mit dem Islam“ begründet werden, in die Nähe von Verfassungswidrigkeit oder gar Strafbarkeit.

Ausschlaggebend für die Begründung der Sanktion ist dabei häufig weniger das konfrontative Verhalten selbst als vielmehr der Bezug auf die Religion, der von den Jugendlichen angeführt wird. Dadurch geraten letztlich alle Formen von sichtbarer und selbstbewusster Religiosität in den Verdacht, auf Islamismus und Radikalisierung hinauszulaufen. In dieser Perspektive geht es dann nicht mehr darum zu fragen, warum Jugendliche so handeln. Es geht vor allem um die Begründung einer Sanktion. Kurz gesagt: Die Jugendlichen haben keine Probleme – sie machen welche. Damit entfällt die Suche nach pädagogischen Handlungsoptionen, die im Umgang mit Beleidigungen, Mobbing oder absoluten Wahrheitsansprüchen denkbar wären.

Problematisch daran sind vor allem zwei Aspekte:

Erstens: Provokative und konfrontative Äußerungen und Verhaltensweisen beschränken sich nicht auf religiöse Kontexte. Entsprechende Kontroversen und Konflikte sind in der Bildungsarbeit auch in anderen Zusammenhängen Alltag. Schon 2015 veröffentlichte der Europarat eine Handreichung für Lehrkräfte unter dem Titel „Leben mit Widersprüchen. Das Unterrichten kontroverser Themen im Rahmen der Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung“, in der unterschiedliche Ausdrucksformen solcher Kontroversen beschrieben wurden. Als kontroverse Themen, die Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen stellen und die sich in Spannungen und Konflikten im Schullalltag äußern können, wurden dabei „lange bestehende Themen, wie z. B. konfessionelle Differenzen und Spannungen in einigen europäischen Staaten, und hochaktuelle Themen, wie z. B. die wachsende Sorge im Hinblick auf religiösen Extremismus, Gewalt sowie die Indoktrination und Radikalisierung junger EuropäerInnen oder den Anstieg von Mobbing und Identitätsdiebstahl im Internet“ (S.14) genannt. Geschlechterrollen, Erinnerungspolitik, Klimakrise, Verkehrswende oder Massentierhaltung wären weitere Themen, die auch Jugendliche polarisieren und zu Konflikten im Schulalltag führen können. Im Mittelpunkt der Materialien des Europarates steht nicht das Interesse, die Konflikte zu umschiffen, sondern sie für politisch-bildnerische Lernprozesse nutzbar zu machen.

Diese Zielsetzung lässt sich in ähnlicher Weise auf Religionsbekundungen, die als provokativ oder konfrontativ wahrgenommen werden, übertragen. Grundsätzlich gilt auch hier, dass auch religiöse Provokationen und Konfrontationen ihren Platz haben – und zwar auch in der Bildungsarbeit, wo diese häufig mit dem Hinweis auf die „negative Religionsfreiheit“ der Mitschüler*innen, also die Freiheit, nicht religiös zu sein, sanktioniert werden. Der Verfassungrechtler Çefli Ademi schreibt dazu: „Die negative Religionsfreiheit schützt zwar davor, in unzumutbarer Weise mit Religiosität konfrontiert zu werden. Es gibt jedoch kein Grundrecht auf einen umfassenden Konfrontationsschutz. Die Weigerung, Andersartigkeit wahrnehmen zu wollen, fällt nicht unter den grundrechtlichen Schutzbereich.“

Schließlich lassen sich auch solche Situationen als Einstieg in Lernprozesse nutzen, die als konfrontativ wahrgenommen werden, anstatt sie durch die Kategorisierung als „islamistisch“ von vorneherein zu sanktionieren. So stehen auch rigide Glaubensvorstellungen und absolute Wahrheitsansprüche nicht per se jenseits der Grenzen, die durch das Kontroversitätsgebot der politischen Bildung gezogen werden. Erst in der Verbindung mit antidemokratischen oder antipluralistischen Einstellungen – also beispielsweise der Verweigerung von Differenz und der Abwertung anderer Positionen oder dem Ausüben von sozialem Druck – überschreiten sie eine Grenze, die das Verhalten zu einem Problem machen. Protest, Provokation und Konfrontation an sich sind nicht ausreichend, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Einstellung als problematisch zu sanktionieren – zumal gerade Provokationen und Konfrontationen von unterschiedlichen Personen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden: Für eine Lehrerin, die mit Religion selbst wenig anfangen kann, mag eine religiös begründete Aussage oder ein Verhalten als konfrontativ erscheinen, während eine andere Person, die selbst auf die eine oder andere Weise religiös ist, dies eventuell ganz anders wahrnimmt. Zu sanktionieren wäre insofern nicht eine (reale oder vermeintliche) Provokation oder Konfrontation, sondern ein Regelbruch.

Zweitens: Jugendliche sind schnell bei der Hand mit religiösen Begründungen für Meinungen oder Verhaltensweisen – diese stehen aber nicht immer für eine besonders ausgeprägte oder besonders rigide Form von Religiosität. In der Forschung zu Identitätsbildungsprozessen wurde vielfach auf einen Zusammenhang hingewiesen, der die Bedeutung von Religion und Religiosität in solchen Verhaltensweisen in Frage stellt. Der demonstrative Bezug auf den Islam entspringt danach nicht unbedingt einem intrinsischen Wunsch nach Spiritualität oder religiöser Praxis, sondern lässt sich oft als Suche nach einer „Rückzugs-“ oder „Restidentität“ in Reaktion auf eine verweigerte Zugehörigkeit und Anerkennung in der Gesellschaft beschreiben. Bereits in der viel – und kontrovers – diskutierten Studie „Verlockender Fundamentalismus“ hatten Heitmeyer, Müller & Schröder in den 1990er Jahren auf einen solchen Zusammenhang hingewiesen. Sie beschrieben die Übernahme einer „religiös fundierten Gewaltbereitschaft“ als „Reaktion auf fremdenfeindliche Gewalt und die Verweigerung der Anerkennung einer kollektiven Identität der Mehrheitsgesellschaft, aber auch konkrete Diskriminierungserfahrungen im privaten Bereich sowie die negativen Folgen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse.“ (1997, S. 183-184)

Ein ähnlicher Zusammenhang wurde auch in der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ sichtbar, die 2011 im Auftrag des Bundesinnenministeriums veröffentlicht wurde. Die Studie basierte zum Teil auf Befragungen, die in der Zeit der Sarrazin-Debatte stattfanden, und gab Hinweise auf die Auswirkungen der breiten gesellschaftlichen Debatte über die rassistischen Thesen Thilo Sarrazins auf Einstellungen von Muslim*innen in Deutschland. Die Autoren beschrieben die Ergebnisse ihrer Studie wie folgt: „Mit der Veröffentlichung des besagten Buches („Deutschland schafft sich ab“) und durch die anschließenden Debatten haben sich möglicherweise die nichtdeutschen Muslime als noch weiter aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wahrgenommen und deshalb mit noch stärker ausgeprägten Vorurteilen gegenüber dem Westen und den Juden und mit einer noch stärkeren Abgrenzung von der Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert.“ (S. 592)

Der vehemente Bezug auf den Islam, wie er von Jugendlichen bisweilen hergestellt wird, ist insofern nicht zwangsläufig Ausdruck eines expliziten Bekenntnisses zu islamischen Glaubensvorstellungen, sondern lässt sich auch als Folge einer Suche nach einer alternativen Gemeinschaft und Zugehörigkeit verstehen. Auch in dieser Hinsicht verstellt der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ daher den Blick für die Motive („das Thema hinter dem Thema“), die die vordergründig mit dem Islam begründeten Verhaltensweisen erklären könnten.

Mit der Beschreibung von provokativen Einstellungen und Verhaltensweisen als „konfrontative Religionsbekundungen“ geht insofern eine Reduktion des Verhaltens auf „den Islam“ einher, die die Suche nach anderen Motiven für das Verhalten ausschließt. Der Begriff suggeriert zudem, dass es sich bei religiös gerahmten Provokationen und Konfrontationen um ein besonders dringliches Problem handele, das sich in seiner Schärfe wesentlich von anderen Provokationen durch Jugendliche unterscheidet. Am Beispiel von homofeindlichen Beleidigungen wird deutlich, warum das in der pädagogischen Arbeit nicht weiterhilft: denn homofeindliche Beleidigungen erfordern immer eine Intervention, unabhängig von den Motiven, aus denen sie getätigt werden. Und auch für die Intervention selbst ist es zweitrangig, ob die Beleidigung mit einem Verweis auf eine göttliche Ordnung oder mit vermeintlich natürlichen Geschlechterrollen begründet wird.

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