Der Nahostkonflikt im Unterricht: Mehmet Can vom Campus Rütli zu Gast beim ufuq.de Couch Talk
23. Februar 2022 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

In der neuen Folge des ufuq.de Couch Talks unterhält sich Sakina Abushi mit Mehmet Can, Lehrer am Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Er ist mit seinen Schüler*innen nach Israel und Palästina gereist und hat gemeinsam mit den Jugendlichen einen Comic daraus gemacht.

Der Nahostkonflikt ist kein Thema wie jedes andere: Viele Rahmenlehrpläne sehen vor, dass er behandelt wird, aber er führt bei Lehrkräften auch immer wieder zu Verunsicherung. Warum ist das so und wie kann man den Nahostkonflikt erfolgreich im Unterricht thematisieren? Mehmet Can ist Lehrer an der Campus Rütli Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln und hat gemeinsam mit Kolleg*innen und Schüler*innen eine Reise nach Israel und Palästina geplant und durchgeführt, eine „Jerusalem AG“ unterrichtet und einen Comic zum Thema herausgebracht. Er arbeitet seit Jahren freiberuflich zu Antisemitismus, Rassismus und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Gespräch mit Sakina Abushi von ufuq.de erzählt er von seinen Erfahrungen und gibt Tipps für die Praxis.

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Hier können Sie die im Video vorgestellten Materialien herunterladen bzw. bestellen:

Handbuch „Mehr als eine Perspektive – Erfahrungen aus zwei Jahren Arbeit zum Nahostkonflikt an einer Neuköllner Gemeinschaftsschule.« (pdf). Zu beziehen über s.klippert@campusruetli.de

Comic „Mehr als Zwei Seiten (Webseite) – Comics über eine Studienreise von Schüler*innen der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Zu beziehen über m.can@campusruetli.de

Alle Couch Talk-Folgen finden Sie hier oder auf unserem YouTube-Kanal.


Transkript zur Folge

Sakina Abushi: Hallo und herzlich willkommen zum ufuq.de Couch Talk. Ich bin Sakina Abushi und ich begrüße euch herzlich zu unserem Video Talk Format, in dem wir mit inspirierenden Leuten aus Pädagogik, Politik und Wissenschaft über aktuelle Themen ins Gespräch kommen. Ich begrüße meinen Gast heute, Mehmet Can.

Mehmed Can: Hallo!

Sakina Abushi: Hallo Mehmet. Schön, dass du da bist.

Mehmed Can: Danke für die Einladung.

Sakina Abushi: Sehr gerne. Du bist Lehrer am Campus Rütli in Berlin-Neukölln. Da bist du seit vier Jahren. Davor warst du an einem Gymnasium in Köpenick. Du bist Lehrer für Geschichte, Politik und Ethik. Und du bist hier zu unserem Thema heute, nämlich der Nahostkonflikt in der politischen Bildung. Du hast ein persönliches Interesse für den Nahostkonflikt, aber du hast auch schon ganz viel dazu gearbeitet, auch schon an deiner Schule. Unter anderem hast du eine Politik-AG, geleitet, die „Jerusalem AG“ und bist mit deinen Schülerinnen und Schülern nach Israel und Palästina gefahren. Und genau darüber werden wir gleich auch noch ganz viel reden. Was mich noch interessieren würde, wir bekommen von Lehrkräften oft gespiegelt, dass der Nahostkonflikt zwar natürlich zum Beispiel im Berliner Rahmenlehrplan steht, dass es ein ganz wichtiger internationaler Konflikt ist und auf jeden Fall irgendwie behandelt werden muss in der Schule, aber es gibt auch so eine gewisse Hemmnis, oder eine Scheu, das zu tun, oder man macht es so schnell wie möglich. Warum ist der Nahostkonflikt kein Thema wie jedes andere?

Mehmet Can: Also, ich kann diese Rückmeldung auf jeden Fall nachvollziehen. Die ist mir auch bekannt. Und trotzdem ist es verwunderlich, warum der Nahostkonflikt eine solche Bedeutung hat. Wenn man sich die Opferzahlen anschaut, gibt es tatsächlich leider viele weitere Konflikte auf der Welt, die den Nahostkonflikt, besonders den Konflikt zwischen Israel und Palästina, überragen. Ich glaube speziell die Bedeutung in Deutschland hat auch viel mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun. Der Diskurs um die Bedeutung des Nahostkonfliktes wird aus meiner Sicht schon verengt geführt. Immer mit Blick auf Schüler*innen mit muslimischer Sozialisation, vor allen Dingen, wenn das Schüler*innen sind, die einen palästinensischen familiären Hintergrund haben. Aber letztendlich ist der Nahostkonflikt schon etwas, das für die deutsche Mehrheitsgesellschaft – also schaut man sich irgendwie die 70er Jahre an, oder generell das post-nationalsozialistische Deutschland und die Beziehung zu Israel – eine besondere Rolle einnimmt. Das ist ein sehr öffentlicher Konflikt, wo auch verschiedene Positionen immer deutlich werden. Also, einerseits gibt es die deutsche Staatsräson und auf der anderen Seite gibt es dem gegenüber durchaus eine skeptische Haltung vieler Menschen in Deutschland gegenüber Israel. Und das erschwert, glaube ich, auch die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt und bekräftigt diese Unsicherheiten, weil dieser Konflikt nicht losgelöst werden kann von den zahlreichen öffentlichen Debatten und dieser Konflikt überlagert wird. Und das verstärkt so eine vorhandene Unsicherheit.

Sakina Abushi: Ging dir das am Anfang auch so, dass du so ein Zögern gespürt hast?

Mehmet Can: Ich hatte das Glück, dass ich mich in der außerschulischen Bildungsarbeit bereits intensiver mit dem Thema beschäftigen konnte, aber auch da ist der Konflikt selbst mit seiner jahrzehntelangen Geschichte natürlich erst mal erschlagend. Zu versuchen, selbst eine Haltung zu entwickeln, sich dessen bewusst zu sein, auch über vielleicht eigene problematische Bilder nachzudenken, das ist etwas, was mich am Anfang beschäftigt hat. Und ich glaube, wenn man in der Lage ist, selbst eine Haltung zu entwickeln, die auch gar nicht festgefahren sein muss, aber wo man sich selbst mit bestimmten Aspekten beschäftigt hat, gibt das auch eine gewisse Sicherheit gegenüber den Schüler*innen. Diese Haltung kann auch sein, dass man selbst unsicher ist. Aber ich kenne tatsächlich diese Rückmeldung, wenn man sich neu mit diesem Thema beschäftigt, dass man sich zu Recht erschlagen fühlt.

Sakina Abushi: Erzähl doch mal: Was habt ihr denn an eurer Schule schon zum Thema Nahostkonflikt gemacht?

Mehmet Can: Ich bin tatsächlich froh, dass ich an einer Schule gelandet bin, die dieses Thema sehr aufmerksam auf verschiedenen Ebenen verfolgt. Das liegt insbesondere natürlich auch daran, dass wir viele Schüler*innen haben, die einen palästinensischen Familienhintergrund haben. Aber ich bin ziemlich überzeugt davon, dass dieses Thema auch etwas ist, was zum Beispiel in meinem ehemaligen Gymnasium in Köpenick durchaus auch von großer Relevanz ist. Das Thema ist, wie gesagt, ein öffentliches Thema. Zwei Kollegen von mir haben zunächst einen zweijährigen Projektkurs „Naher Osten“ entwickelt. Dieser Kurs ist tatsächlich in unserem Rahmenlernplan, in unseren Schulalltag eingebunden und Schüler*innen der neunten und zehnten Klasse beschäftigen sich zwei Jahre lang intensiv mit dem Thema. Sie forschen zu Antisemitismus und Rassismus in Deutschland. Sie beschäftigen sich mit der Shoa, beschäftigen sich mit dem Konflikt vor Ort. Sie reisennach Israel und Palästina und bereiten dann ihre Erfahrungen im zweiten Jahr des Kurses nach. Das ist tatsächlich etwas, was ein großes Interesse bei unseren Schüler*innen geweckt hat. Wir haben Angebote, wie die von dir angesprochene AG, die ich geführt habe. Ich habe außerdem eine Politik-AG gegründet, die „Jerusalem AG“, und da hat sich ebenfalls das Interesse herauskristallisiert: „Mensch, lass uns doch mal in die Gegend fahren.“ Und wir haben die Reise gemacht und im Nachgang der Reise, das war auch gar nicht geplant, haben wir dann mit den Jugendlichen gemeinsam einen Comic entwickelt, er heißt „Mehr als zwei Seiten“. Und das sind Möglichkeiten, wie wir versuchen, das Thema wirklich in den Schulalltag einzubeziehen und das ist auch etwas, was ich tatsächlich vielen Kolleg*innen raten kann. Abseits dieser ad hoc Angebote, die notwendig sind, schon zu versuchen, das Thema als selbstverständlichen Teil der Schule und des schulischen Lebens auch einzubeziehen.

Sakina Abushi: Wir müssen unbedingt über diese Reise sprechen. Ihr seid also mit Schülerinnen und Schülern nach Israel und Palästina gefahren. Wie war die Reise für dich? Wie hast du sie erlebt?

Mehmet Can: Sie war anstrengend und aufregend. Aber auch tatsächlich etwas, von dem wir alle noch lange gezehrt haben. Die Reise war für uns alle etwas Besonderes. Für meine Schüler*innen war die Reise etwas Besonderes, weil wenn wir ehrlich sind, Israel und Deutschland eine unglaublich enge Beziehung haben. Aber schaut man sich den Jugendaustausch zwischen Israel und Deutschland an, dann sind das in der Regel nicht unsere Schüler*innen, die zum Teil aus bildungsbenachteiligten Familien kommen, einen prekären sozioökonomischen Status haben oder auch einen palästinensischen Migrationshintergrund. Das ist tatsächlich eine Gruppe, die sehr unterrepräsentiert ist – aus verschiedenen Gründen. Es ist außergewöhnlich, dass diese Gruppe dort hinfährt. Nicht, weil sie kein Interesse hat. Viele sind immer verwundert, wie es denn dazu kam, dass man mit so einer Gruppe in die Region fährt. Also, wenn wir die Möglichkeit hätten, die uns Corona gerade ja leider nicht bietet, morgen in den Flieger zu steigen, ich bin mir sicher, wir könnten ziemlich viele Schüler*innen gewinnen, dort hinzureisen.

Sakina Abushi: Was waren besondere oder beeindruckende Momente für die Schüler*innen bei der Reise?

Mehmet Can: Wir haben, als wir die Reise geplant haben, überlegt: Was wollen wir unserer spezifischen Gruppe ermöglichen? Aber auch natürlich die Frage, was können wir unserer Gruppe zumuten? Ich bin kein Freund davon, dass wir eine Art Sonderpädagogik anbieten, speziell für unsere Schüler*innen oder für diese Gruppe, die in dem Fall tatsächlich einen mehrheitlich palästinensischen Hintergrund hatte. Ich finde, wir sollten Bildungsangebote so konzipieren, dass sie auch für Schüler*innen zum Beispiel in Köpenick von Relevanz sein können. Es war uns sehr wichtig, dass die Schüler*innen wirklich das Land und die Leute nicht nur aus dem Reisebus heraus kennenlernen, dass sie ins Gespräch kommen mit vielen Leuten, mit vielen unterschiedlichen Leuten. Und der Comic heißt unter anderem auch deshalb „Mehr als zwei Seiten“, weil es nicht nur um Seiten eines Konfliktes geht, sondern unser Ziel ist es, homogenisierenden Zuschreibungen entgegenzuwirken. Und deswegen war es wichtig, dass sie viele unterschiedliche Menschen und uach Jugendliche treffen.

Sakina Abushi: Gab es eine Begegnung, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Mehmet Can: Da gab es tatsächlich einige. Wir haben eine Initiative in Betlehem getroffen, die Initiative nennt sich „Parents Circle“. Das sind israelische und palästinensische Eltern, die ihre Kinder im Konflikt verloren haben. Und in dem Fall haben wir uns mit zwei Vätern getroffen, die von ihren unterschiedlichen Geschichten erzählt haben und beide haben dasselbe Schicksal, dass ihre Kinder auf unterschiedliche Arten im Konflikt gestorben sind. Und das ist natürlich etwas sehr Tragisches. Es war ein sehr bewegendes Gespräch und für die Schüler*innen war bemerkenswert, dass hier wirklich Leute zusammensitzen, die sie in den Medien, die sie konsumieren, erst einmal nur als Feinde kennen.

Sakina Abushi: Gibt es etwas, das man aus der Erstellung des Comics lernen kann? Oder mitnehmen kann, generell in die Behandlung des Nahostkonflikts im Unterricht?

Mehmet Can: Der Comic entstand aus der Perspektive der Schüler*innen. Das wäre nicht gelungen, wenn wir nicht mit den Schüler*innen gemeinsam gearbeitet hätten. Die Protagonist*innen gehen zum Teil in Schulklassen und sprechen über den Comic. Als sie das letzte Mal in einer achten Klasse in einer anderen Schule in Neukölln waren, haben sie folgende Rückmeldung bekommen: „Ey. Das sind ja wir.“ Ich glaube, wenn wir Erwachsenen versucht hätten, die Sprache nachzumachen, dann wäre es eher sehr peinlich geworden. Das hat uns sehr gefreut, dass wir es auch geschafft haben, die Perspektive der Jugendlichen darzustellen. Ich glaube, Offenheit ist wichtig. Diese Offenheit kann auch sehr schmerzhaft sein. Aber wenn man sich erst einmal vor Augen führt, dass man mit jungen Menschen, mit Jugendlichen, mit jungen Erwachsenen arbeitet, die dabei sind, ihre Identität, die sich noch wandelt, zu entwickeln – und man ihnen dann eher dabei hilft, eine Position einzunehmen, kann es auch sein, dass man durchaus Konflikte hat. Aber Pädagogik ist ein Ort, an dem alles sagbar ist. Das heißt nicht, dass alles widerspruchsfrei ist, aber erst einmal müssen Jugendliche wirklich das Gefühl haben, dass alles sagbar ist und dann kann man damit arbeiten. Wir bearbeiten ja im Comic eine Episode, wo ein Schüler im Vorfeld kurz vor der Reise gemerkt hat: „Ok. In Israel werden wir wahrscheinlich auch Juden treffen.“ Und er sich nicht bereit erklären konnte, Geschenke für jüdische Schüler*innen zu besorgen. Ich bin dem Schüler dankbar, dass er das artikuliert hat. Für uns war natürlich klar, dass wir schauen müssen, inwiefern diese Reise für ihn überhaupt möglich ist. Wie schmerzhaft wird diese Reise für ihn? Aber es gab viele, lange Gespräche. Wir haben ihn ernst genommen, aber genauso waren wir auch sehr deutlich in unserer Position, dass wir natürlich als gute Gäste, die wir sind, die eingeladen werden, auch unseren Gastgeber*innen Geschenke überbringen. Ich würde mir manchmal mehr Nachsicht wünschen, was die Positionen von Jugendlichen betrifft. Noch einmal, diese Positionen können auch oft nervig sein und sie können einen provozieren und für mich sind sie manchmal tatsächlich auch schwer zu ertragen, aber sich wirklich vor Augen zu führen, welchen Scheiß ich mit 16, 17 Jahren geglaubt habe. Das ist einem ja wirklich heutzutage auch unangenehm. Aber das auch den Jugendlichen zuzugestehen.

Sakina Abushi: Es ist eine wahnsinnig beeindruckende Initiative. Es ist eine tolle Arbeit, die ihr da macht. Ich wünsche mir, dass ganz viele Jugendliche die Gelegenheit haben werden, diese Reise auch in der Zukunft anzutreten. Mehmet, wenn man jetzt noch mehr lernen möchte über eure Initiative und diese Handreichung und den Comic gerne haben möchte, wo findet man die?

Mehmet Can: Wir haben eine Webseite gebastelt, wo man den Comic kostenlos runterladen kann. Ein paar gedruckte Exemplare haben wir auch noch. Die kann man gegen eine Spende beziehen. Die Handreichung „Mehr als eine Perspektive gibt es bei unserem Projektpartner IBIM e.V.

Sakina Abushi: Vielen Dank, dass du heute bei uns auf der Couch warst. Das hat mich sehr gefreut.

Mehmet Can: Danke für die Einladung. Danke, das wir unsere Arbeit hier vorstellen durften.

Sakina Abushi: Sehr gerne. Das war der ufuq.de Couch Talk. Vielen Dank fürs Zuschauen und bis zum nächsten Mal!

 


Der ufuq.de-Couchtalk wird seit 2021 von der LOTTO-Stiftung Berlin gefördert.

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