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Queere Muslim*innen verschaffen sich zunehmend Gehör, zum Beispiel auf Demonstrationen.

© IMAGO / Pacific Press Agency

Beten und bei Gayhane flirten: „Wir sind es nicht gewohnt, selbstbewusste Muslim*innen zu sehen, die beides können“

Der Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç spricht über antimuslimischen Rassismus und Coming In und erklärt, was es mit Queer Dschihad auf sich hat.

Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Politikwissenschaftler, freier Autor und Lyriker. 2021 wurde er als Mitglied der Expert*innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus in Berlin berufen. Sein Buch „Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes“ erschien im vergangenen Jahr in der Edition Körber.

Ozan Zakariya Keskinkılıç, am 17. Mai findet der Idahot statt, ein internationaler Tag, der auf Gewalt gegen queere Personen aufmerksam macht. Auch der CSD rückt näher. Wie viel Raum haben queere muslimische Stimmen in Deutschland an diesem Tag?
Wenn es um queere Themen geht, wird in den wenigsten Fällen über queere Muslim*innen und ihre Lebenswirklichkeiten nachgedacht. Das hat verschiedene Gründe. In der breiten Gesellschaft sind Islam und Muslime zum Inbegriff der Homophobie geworden, man kann sich queere Muslim*innen kaum vorstellen.

Selbst in weißen queeren Räumen herrscht oft eine Art Unbehagen, sich zum Islam oder gegen antimuslimischen Rassismus zu positionieren. Das führt zu einem Performanzdruck für queere Muslim*innen, ständig ihr Progressivsein und Queersein unter Beweis stellen zu müssen.

Sind diese Räume tatsächlich in der Lage dazu, queere Muslim*innen mitzudenken, ohne dass es zu einer Re-Stigmatisierung kommt?

Auch Berlin gilt als progressiv, modern und aufgeklärt. Tatsächlich aber steigen die Zahlen von Gewaltvorfällen gegen queere Menschen. Wie lässt sich dieser scheinbare Widerspruch erklären?
Indem das Problem mit „den“ Muslimen assoziiert wird. Sie übernehmen die Funktion eines Sündenbocks, der für Homofeindlichkeit, Sexismus und viele andere Missstände kollektiv verantwortlich gemacht wird und sozusagen unser Gewissen reinwaschen soll. Je selbstverständlicher über sogenannte importierte Gefahren gesprochen wird, desto leichter fällt es, die Mehrheit zu entlasten.

Es gibt eine asymmetrische Gleichzeitigkeit: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich in Abgrenzung zu anderen als tolerant und egalitär idealisiert, während die Strukturen ausschließen und Gewalt Alltag bleibt.

Sie haben im vergangenen Jahr das Buch „Muslimaniac – Die Karriere eines Feindbildes“ herausgebracht. Darin schreiben Sie über eine jahrhundertlange Diagnose, die Muslim*innen zu einem Problem erfindet. Wofür steht „Muslimaniac“?
Es ist ein Aspekt im antimuslimischen Rassismus, den wir historisch im europäischen Kolonialismus und Orientalismus, aber auch in gegenwärtigen Verhältnissen beobachten können. Muslim*innen werden zum gesellschaftlichen Übel deklariert und zur Zielscheibe genommen von Verdacht, Beobachtung und Ausgrenzung. Wir müssen uns deshalb fragen: Was macht es eigentlich mit einem Menschen, der mit diesen dämonisierenden Bildern aufwächst?

Und welche Möglichkeiten gibt es, das Vokabular des Misstrauens in Frage zu stellen? Mir geht es darum, Wege zu finden man selbst zu sein oder sich neu erfinden und entfalten zu können.

Ozan Zakariya Keskinkılıç wurde 2021 als Mitglied der Expert*innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus in Berlin berufen.
Ozan Zakariya Keskinkılıç wurde 2021 als Mitglied der Expert*innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus in Berlin berufen.

© Meltem Kaya

Ihr Buch ist eine Mischung aus persönlichen Eindrücken, aber hat auch Züge eines Sachbuches. Wie wurde es in der deutschen Wissenschaftsszene wahrgenommen?
Es kommt ganz drauf an, von welchen Disziplinen und Fachbereichen wir sprechen. Aber es stimmt, dass das „Ich“ der Forschenden in der deutschen Wissenschaftstradition nicht auftaucht. Es kann ja gar nicht auftauchen unter dem Anspruch von vermeintlicher Objektivität und Neutralität.

Es würde mich deshalb nicht verwundern, wenn das Buch als unwissenschaftlich und subjektives Gefühl abgewertet wird. Ich erkenne aber auch bei Kolleg*innen aus der postkolonialen Theorie, der kritischen Migrations- und Rassismusforschung eine große Bandbreite an Schreibprozessen, in denen biografische Elemente verarbeitet werden.

Menschen wie May Ayim, die Wissenschaftlerin, Aktivistin, Autorin und Lyrikerin zugleich war, zeigen, dass man verschiedene Rollen miteinander in den Dialog bringen kann. Ich wollte das wissenschaftliche Archiv mit den biografischen und alltäglichen, den literarischen und künstlerischen Archiven in Geschichte und Gegenwart verweben.

Sie machen das vor allem am Beispiel der Lyrik deutlich und zeigen, wie viel Platz Intimität und Liebe zwischen Männern in der Literatur frühislamischer Gesellschaften einnahm. In Deutschland gilt Islam aber als der Inbegriff einer homophoben Religion. Ist das auch ein Weg der Mehrheitsgesellschaft, die Homofeindlichkeit des Christentums zu verschleiern?
Im christlich-abendländischen Mittelalter wurde der Islam mit „Sodomie“ in Verbindung gebracht. Damit konnten Kreuzzüge gerechtfertigt und die Verfolgung in den eigenen Reihen unter dem Schatten des orientalischen Spukgespensts forciert werden. Im Rückblick wird deutlich, wie Debatten um Sexualität für andere Zwecke instrumentalisiert werden können und wie eng sie mit Macht verzahnt sind.

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Das Erbe aus frühislamischen Gesellschaften, also die Ambiguität von Gender und Sexualität und der offenere Umgang mit Begehren und Intimität in Gesellschaft, Religion, Kunst und Kultur ist selbst unter vielen Muslim*innen unbekannt. Der europäische Kolonialismus hat eine wesentliche Rolle darin gespielt, dass die Situation heute anders aussieht. An die vergessene und verdrängte Vergangenheit zu erinnern bedeutet auch, Möglichkeiten aufzuschlüsseln, wie wir anders schreiben, sprechen, denken und leben können.

Lyrik hilft dabei, ihre Kraft trifft auch heute zusammen mit der Kraft von Queerness. Sie untergraben jeweils Vorstellungen von Absolutheit und Wahrheit, und sie erteilen der Eindeutigkeit unseres Lebens eine Absage. Ich will zeigen, dass wir neue queer-muslimische Utopien erfinden können und dafür lassen sich Lyrik und Queerness in einer besonderen Weise verbinden.

Bis im frühen 19. Jahrhundert war in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern gleichgeschlechtliche Liebe fest verankert im Stadtbild und Gegenstand der Lyrik. Welche Bedeutung hat die Lyrik heute?
Bei meiner Recherche bin ich nicht nur auf Dichter wie Abu Nuwas oder Saadi Shirazi gestoßen, die über Intimität und Begehren zwischen Männern schrieben, sondern auch auf zeitgenössische Lyrik. Zum Beispiel von Seema Yasmin aus den USA, die die Liebe zwischen Frauen feiert und dabei kreativ religiöse Motive herausfordert. Oder auch Omar Sakr in Australien, der über schwule Dates im Park oder über die Beziehung zum Vater dichtet.

Auch solche zeitgenössischen queer-muslimischen Stimmen sind Schätze, die mich in meiner eigenen Reise als Lyriker begleiten. Demnächst erscheint mein Lyrikdebüt „Prinzenbad“, darin finden queer-muslimische Perspektiven einen zentralen Platz. Mir ist es ein Anliegen zu zeigen, dass Personen, die Rassismus erfahren, auch auftreten als Produzent*innen von Kunst und Kultur.

Es kommt häufig zu einer Hypervisibilität von Muslim*innen als Problem und einer Unsichtbarkeit all jener Facetten, die ihr Leben eigentlich ausmachen.

Rassismus gegenüber queeren nicht-weißen Personen ist auch innerhalb queerer Szenen in Deutschland ein Problem. Welchen Platz haben Rassismus und Fetischisierung im Dating?
Einen ziemlich großen, denn unsere Körper werden für die Fantasien anderer verwertet und konsumiert. Schwarze Menschen und People of Color verwandeln sich zu Projektionsflächen von Lust und Begehren, die häufig rassistisch aufgeladen sind. Bilder der Erotik vermengen sich auch mit Bildern der Gewalt und Gefahr, nicht-weiße Körper können auch als abstoßend und bedrohlich markiert werden. Beides geht ineinander über und überschattet zwischenmenschliche Beziehungen.

Diese Erfahrung, ein Objekt im Auge anderer zu sein, machen viele im Dating und in Liebesbeziehungen, ja selbst in weißen queeren Räumen.

Dabei sind diese Räume für sie häufig Zufluchtsorte…
Genau! Ich beobachte, dass queere Muslim*innen doppelt verdächtig sind: Im Grunde können sie es niemandem recht machen, weil sie für die einen ein Leben in Sünde führen, und für die anderen Verräter an linken Werten sind, weil sie sich nicht vom Islam lösen. Deshalb stehen sie unter Druck und sollen sich plötzlich entscheiden.

Wer queer und muslimisch ist, riskiert ein einsames Leben zu führen und an den Rand der Räume und Debatten gedrängt zu werden. Es geht nicht nur darum, ob man in muslimischen Räumen Queerfeindlichkeit oder in weißen queeren Räumen Rassismus als Thema auf dem Schirm hat.

Es geht generell um Themen, die Menschen in diesen Räumen beschäftigen. Warum sollen nicht auch religiöse Bedürfnisse und muslimische Anliegen in queere Räume getragen werden; das steht ja nicht im Widerspruch dazu, queer zu sein. Es wird schwierig, wenn queere Muslim*innen sich nicht in der Form ausleben können wie sie wollen oder schief angesehen werden. Auch dann, wenn lesbische Musliminnen mit Hijab sich nicht auf jeder Demo oder Party wohlfühlen.

Queersein wird im Populärdiskurs viel mit Coming Out verbunden. Sie schreiben in Ihrem Buch hingegen über ein sogenanntes Coming In. Was ist damit gemeint?
Ich finde das Wort „Coming In“ oder „Inviting to Come In“ total wichtig. Das ist ein Modell, das die australisch-libanesische Psychologin Sekneh Hammoud-Beckett rekonstruiert hat. In einer Sitzung berichtet ihr ein queerer Muslim, dass er sich mit dem öffentlichen Coming Out nicht so sehr anfreunden kann und stattdessen Menschen, denen er vertraue und die ihm etwas bedeuten, in sein Leben einlade.

Das ist ein anderer Zugang, der neue Fragen nach Sichtbarkeit und Empowerment stellt, und es ist ein Begriff, der gerade unter queeren Muslim*innen sehr beliebt wird. Manche können oder wollen sich nicht outen und andere sehen darin keine Notwendigkeit, weil damit zugleich die „Abweichung“ zu einer Norm markiert wird.

Natürlich kann ein „Coming Out“ Freiheit und Selbstermächtigung bedeuten, das sind wichtige Prozesse. Aber wer diesen performativen Akt aus verschiedensten Gründen nicht mitmacht, bleibt auch aus queeren Räumen häufig draußen.

Bei Veranstaltungen wie dem CSD ist in Deutschland häufig wenig Platz für queere muslimische Stimme.
Bei Veranstaltungen wie dem CSD ist in Deutschland häufig wenig Platz für queere muslimische Stimme.

© Imago

Queere Muslim*innen verschaffen sich mittlerweile zunehmend Gehör. Sie organisieren Demonstrationen und andere Veranstaltungen. Sie sprechen in diesem Kontext von Queer Dschihad. Was bedeutet das?
Der Begriff Dschihad gerät schnell unter Verdacht, er ist eine Provokation – vor allem im Zusammenhang mit Queer. Er trägt den Widerspruch quasi in sich, wenn Dschihad als Terror, Mord und Bedrohung gesehen wird. Ich nehme dabei aber eine andere Bedeutungsebene in den Fokus, nämlich eine Übersetzung, die bedeutet „zielgerichtete Anstrengung und Bemühung auf dem Weg Gottes“.

Viele muslimisch sozialisierte Menschen, die sich auf den Begriff Dschihad beziehen, meinen damit eher eine spirituelle Entfaltung und persönliche Weiterentwicklung oder sogar moralischen Einsatz.

Mir war es wichtig, die beiden Dinge zu verschmelzen, um den Gegensatz von Islam und Queer aufzulösen. Queer Dschihad ist eine emanzipatorische Botschaft, die all unsere üblichen Vorstellungen davon, was queer und was muslimisch ist, sabotiert. Darin liegt das Potenzial einer alternativen Perspektive – für eine neue Form der Solidarität, die nicht an den Fransen unserer Gebetsteppiche aufhört.

Sie haben dem Queer Dschihad ein ganzes Kapitel gewidmet. Welche Bedeutung hat das Thema für Sie?
Queer Dschihad ist auch ein Plädoyer, aus den uns zugewiesenen Rollen auszubrechen, nicht mehr das langweilige Klischee-Theater um Islam und Muslime zu bespielen, sondern andere Fragen zu stellen und frische Erzählungen zu generieren. Wir sind es nicht gewohnt, selbstbewusste Muslim*innen zu sehen, die beides können, beten und bei Gayhane flirten.

Für mich ist das Kapitel „Queer Dschihad“ eine Art Auftakt. Ich habe damit andere Themen adressiert und für mich bearbeitet, für die ich vorher in der Form keinen Raum hatte. Ich selbst, als queerer Muslim, trete damit in einem neuen Zusammenhang auf, wissenschaftlich, kulturell und literarisch.

Viele hat das überrascht. Aber für mich ist das erst der Anfang einer Suche nach weiteren Antwortmöglichkeiten im Prozess des Community-Buildings.

Welche Rolle spielt im Kontext dieser neuen Solidarität, die sie beschreiben, Intersektionalität, also verschiedene Diskriminierungsebenen zusammenzudenken?
Das ist ein großes Thema, das mich oft sehr bedrückt. Es ist einfach, Solidarität plakativ darzustellen und wir sind gewöhnt daran, das mit einem Klick zu tun, mit ritualisierten Lippenbekenntnissen, mit Kacheln in den sozialen Medien und mit Slogans oder Bannern auf Demos.

Aber wenn es darum geht, diese Worte in eine Alltagspraxis zu übersetzen, dann sehen wir, dass wir gar nicht wissen, was Solidarität eigentlich bedeutet oder wie sie gelebt wird.

Es ist kein Wunder, dass in vielen Projekten, die sich Intersektionalität auf die Fahne schreiben, ausgerechnet Muslim*innen gar nicht auftauchen als Gruppe, die wie andere auf Unterstützung angewiesen ist. Viele scheuen sich davor, sich mit Muslim*innen zu zeigen und mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden.

Das ist fatal und sehr gewaltvoll, weil gerade Marginalisierte sich nach anderen Räumen sehnen und dann ausgerechnet dort nicht mitgedacht werden, wo von Intersektionalität gesprochen wird. Das ist ein Schlag ins Gesicht.

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