Prävention im Kontext Schule

Von Feride Aktaş und Julia Nowecki | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 16

Präventionsarbeit mit jungen Menschen ist für Violence Prevention Network als Träger der Kinder- und Jugendhilfe ein zentraler Bestandteil seiner Tätigkeit. Sowohl im Kontext Schule als auch in der offenen Jugendarbeit bietet Violence Prevention Network in mehreren Bundesländern verschiedene, meist mehrtägige Workshop-Formate für Jugendliche an. Die Inhalte und Schwerpunkte werden speziell auf die Bedarfe der jeweiligen Zielgruppe angepasst; die Konzepte werden im Austausch mit Lehrkräften und Sozialarbeitenden der jeweiligen Schulen, Jugendclubs und Vereine erstellt. Im Folgenden teilen wir Erfahrungen und Grundlagen aus der pädagogischen Praxis unterschiedlicher Beratungsstellen von Violence Prevention Network, die im Kontext des religiös begründeten Extremismus arbeiten.

Mit dem Ziel der Radikalisierungsprävention sollen Jugendliche durch unsere Workshops sensibilisiert und befähigt werden, ideologische Denkmuster zu erkennen. Sie sollen gestärkt werden im Umgang mit radikalen Positionen, indem die Dialogfähigkeit der Jugendlichen untereinander und mit Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Hintergründe gefördert wird. In der Auseinandersetzung mit den Themenbereichen Religion, Identität und (Anti-)Diskriminierung lernen Jugendliche, wie vielfältig der Islam ist und, dass „Glaube“ für jeden Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Der Abbau von Vorurteilen einerseits und das Stärken von Widerspruchstoleranz andererseits sind wichtige Bestandteile unserer Arbeit. Überdies soll ein verantwortungsbewusstes Verhalten im Internet erlernt und ein kompetenter Umgang mit (Sozialen) Medien gefördert werden.

Der pädagogische Ansatz

Um Jugendliche zur Selbstreflexion anzuregen und sie für das – durchaus komplexe – Thema ‚religiös begründeter Extremismus‘ erfolgreich zu sensibilisieren, ist es wichtig, die Lebensrealität der Schüler*innen zu berücksichtigen. Sie stehen im Mittelpunkt, ihre Fragen sollen besprochen werden und der Workshop soll die Möglichkeit bieten, eigene Erfahrungen und Ideen miteinzubringen. Grundvoraussetzung ist dabei ein entsprechendes Setting: Wir arbeiten im Stuhlkreis, sodass sich alle Teilnehmer*innen sehen können. Gesprächsregeln für einen achtsamen und respektvollen Umgang werden zu Beginn des Workshops gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet. Die Workshop-Leitung begegnet den Jugendlichen stets auf Augenhöhe: Es soll ein Raum geschaffen werden, in dem sich alle beteiligen und den alle mitgestalten dürfen. Und vor allen Dingen: Es soll Spaß machen.

Praktisch bedeutet dies, die Jugendlichen zu ermutigen, über ihre eigenen Gefühle, Erfahrungen und Ideen nachzudenken und sie mit der Gruppe zu teilen, ohne bewertet zu werden oder anderen mit Vorurteilen zu begegnen. Unser Ziel ist es, die Jugendlichen zu spiegeln und auf sie einzugehen. Alle dürfen und sollen sich frei äußern – auch über Themen, die häufig tabuisiert werden, wie etwa Religion, Geschlecht(errollen), Sexualität. Wir schaffen den dafür notwendigen Rahmen, da es außerhalb solcher Workshops für manche Jugendliche wenig Räume gibt, in denen sie sich offen – beispielsweise zum Thema Religion – austauschen und die Fragen stellen können, die ihnen auf dem Herzen liegen. Dabei sind diese Themen für viele junge Menschen ein fundamentaler Bestandteil ihrer Identität, der teilweise über das familiäre Umfeld und/oder die peer group vermittelt bzw. zumindest stark beeinflusst wird. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven und Weltsichten und die Reflexion über Religion und Identität ist gerade für Jugendliche, die in einer Phase der Selbstfindung viele Fragen haben, äußerst wichtig.

Die Atmosphäre des Workshops ändert sich, wenn wir eine Exkursion, beispielsweise in eine Moschee, eine Kirche oder eine Synagoge durchführen. Außerhalb des Klassenraums können Schüler*innen leichter eine andere Perspektive einnehmen, viele Dinge können leichter und besser vermittelt werden – hier werden die im Workshop diskutierten Themen anschaulicher und wir können direkte Bezüge zur Lebenswelt der Schüler*innen herstellen. Wann immer möglich, planen wir daher im Rahmen mehrtägiger Workshops auch Exkursionen ein.

Vertrauen und Verständnis

Die Themen, zu denen wir arbeiten sind sowohl komplex als auch emotional behaftet. Wir besprechen mit den Jugendlichen Inhalte, die sie ansonsten oft nur für sich alleine behandeln oder zu denen sie sich anonym im Internet austauschen. Eine Vertrauensbeziehung zu schaffen, ist für Trainer*innen grundlegend wichtig, damit die Jugendlichen sich öffnen und wirklich auf den Workshop einlassen können. Hierfür ist neben ausreichend Zeit – häufig führen wir mit derselben Gruppe mehrere ganztägige Workshops durch – die oben bereits besprochene pädagogische Haltung wichtig. Wir nehmen die Jugendlichen ernst, hören zu und fragen nach. Wir zeigen, dass wir uns wirklich für sie und ihre Lebensrealität interessieren: Was machen sie in ihrem Alltag? Welche Interessen haben sie, was ist ihnen wichtig? Es ist entscheidend, dass wir als Trainer*innen den Jugendlichen das Gefühl geben, dass wir nicht einfach nur Wissen vermitteln möchten, sondern wirklich Interesse an dem haben, was die Jugendlichen beschäftigt und wie sie zu den Themen stehen, die wir behandeln.

Als Personen, die im Schulkontext über Islam und Religion im Allgemeinen sprechen, werden die Trainer*innen selbst teils mit Vorurteilen und Skepsis betrachtet – von Lehrkräften, aber auch von Schüler*innen. Gerade Jugendliche, die von Islam- und Muslim*innenfeindlichkeit im Alltag betroffen sind, haben Sorge, dass wir eingeladen wurden, um ihnen zu erklären, dass „ihre“ Religion entweder Ursache von Hass und Gewalt sei oder dass sie weniger fromm sein müssten, um „ihre“ Religion in Deutschland leben zu können. Teilweise kommen Schüler*innen erst zum zweiten Workshop-Tag und geben als Begründung an, sie hätten erst einmal durch die Mitschüler*innen „abchecken lassen“, wie wir Trainer*innen „so drauf sind“ – und nun würden sie am zweiten und dritten Tag teilnehmen, weil sie jetzt wüssten, dass wir „voll o.k.“ sind.

Ein Schlüssel für den erfolgreichen Vertrauensaufbau ist hierbei: Verständnis für die Lage eines Menschen zu haben, der*die als Muslim*in, teils mit Migrationsgeschichte, teils mit Fluchterfahrung, in Deutschland lebt. Wie fühlt es sich an, wenn um einen herum gefühlt ständig und oft abwertend über „den Islam“ und andere Muslim*innen bzw. muslimisch gelesene Menschen und damit über einen sehr persönlichen Teil der Identität der Jugendlichen geredet wird, oft verbunden mit der impliziten Annahme, dass dieser Teil der Persönlichkeit ein Problem sei? Was macht es mit jungen Menschen, wenn sie auf diesen einen Bestandteil ihrer Identität – die Religion – reduziert werden?  Es ist wichtig, sich hineinversetzen zu können in die Lage von jungen Menschen, die sich in einer Phase der Identitätsfindung befinden. Offen zu sein für die Themen, die junge Menschen beschäftigen und auch ihre Sorgen und Ängste auffangen zu können, sind grundlegende Voraussetzungen für unsere Arbeit.

Vielfalt betonen, Widerspruchstoleranz fördern

In unserem Berufsalltag beobachten wir häufig, dass das eigene Religions- und Gottesverständnis der Schüler*innen geprägt ist durch die jeweilige Sozialisation – die eigene Biographie, die Erziehung, das familiäre Umfeld sowie peer groups haben einen großen Einfluss auf die Jugendlichen. Dies wiederum bestimmt auch den Umgang mit anderen Religionen und Weltanschauungen. Das Aufzeigen der Vielfalt in der Religion, in der Religionsausübung sowie unter Gläubigen leistet einen aktiven Beitrag zur Prävention von religiös begründeten extremistischen Meinungsbildern. Durch verschiedene Methoden der politischen Bildung regen wir Schüler*innen zu Reflexion und kritischem Nachfragen an, damit sie sich mit den Themen Identität und Religion aktiv beschäftigen.

Die Wissensvermittlung und Vertiefung von bereits vorhandenen Kenntnissen zum Thema Islam und Religionsausübung in Abgrenzung zu extremistischen Auslegungen sind wichtige Bausteine unserer Präventionsarbeit, damit Jugendliche potenziellen Rekrutierungsbemühungen extremistischer Gruppierungen nicht länger ohnmächtig gegenüberstehen. Um Jugendliche darüber hinaus für die Gefahr von Anwerbeversuchen extremistischer Gruppierungen zu sensibilisieren, analysieren wir Rekrutierungsstrategien und fördern die Medienkompetenz der Jugendlichen. Wie funktioniert Propaganda und wie können Schüler*innen erkennen, was sich hinter den Versprechen extremistischer Gruppierungen verbirgt? Aktuelle politische Bezüge können im Rahmen der Workshops besprochen werden mit dem Ziel, ein gemeinsames Demokratieverständnis zu erarbeiten. Die Vereinbarkeit von Religion und Demokratie sowie die positive Integration von Religion in den Alltag sind zentrale Aspekte, die wir den Schüler*innen im Rahmen unserer Workshops vermitteln. Im Kontext Prävention ist es wichtig zu betonen, dass der Islam und Muslim*innen zu Deutschland gehören und dass muslimische Schüler*innen sich genauso in politische und demokratische Prozesse einbringen können und sollen, wie Jede*r andere im Land auch. Sich ausgegrenzt und nicht zugehörig zu fühlen, isoliert zu sein und ohnmächtig dem Geschehen zuschauen zu müssen, kann Radikalisierungsverläufe begünstigen oder bereits begonnene Prozesse beschleunigen. Daher sind die Auseinandersetzung mit eigenen Diskriminierungserfahrungen und das Erlernen von Strategien und Handlungsoptionen, genauso wie Empowerment, wichtige Bestandteile der Workshops. Haben Jugendliche beispielsweise Erfahrungen gemacht, die ihnen ein Gefühl der Ohnmacht vermittelt haben oder bei denen ihr eigenes Engagement keinen Erfolg brachte, ist es wichtig, gemeinsam die Hintergründe zu beleuchten und alternative Handlungsoptionen zu erarbeiten. 

Neben den drei Themenbereichen „Islam, Religion und Identität“, „Umgang mit religiös begründetem Extremismus und Radikalisierung“ sowie „Antidiskriminierung und Muslim*innnenfeindlichkeit“, arbeiten einige Beratungsstellen von Violence Prevention Network auch zum Themenbereich Fake News und Medienkompetenz mit den Jugendlichen. Denn sowohl hinsichtlich (Online-)Radikalisierung und -Prävention, als auch hinsichtlich (Anti-)Diskriminierung spielen die Sozialen Medien eine bedeutende Rolle und ein kompetenter Umgang mit ihnen ist wichtiger Bestandteil erfolgreicher Präventionsarbeit. So werden in den Workshops die Entstehung, Funktionsweise und Verbreitung von Fake News besprochen. Jugendliche lernen, zwischen Meinung und Fakten zu unterscheiden, außerdem wird eine Reflexion über die Folgen, die das Verbreiten von Fake News haben kann, angeregt und die Empathiefähigkeit für Betroffene von Fake News wird gesteigert mit dem Ziel, die Jugendlichen für einen achtsamen Umgang mit (Sozialen) Medien zu gewinnen.

Ein wichtiges Handwerkszeug: Die Persönlichkeit der Trainer*innen

Unsere Trainer*innen-Teams sind multiprofessionell zusammengestellt und arbeiten im Tandem. Je nach Kontext und Zusammensetzung der Schulklasse oder Jugendgruppe achten wir bei der Wahl der Trainer*innen und ihrer Expertisen darauf, wer einen guten Zugang zu den Jugendlichen finden kann. In Abhängigkeit davon, welche thematischen Schwerpunkte im Workshop gesetzt werden und wo Anknüpfungspunkte zu den Biographien der jeweiligen Jugendlichen bestehen, wählen wir ein Trainer*innen-Tandem aus Frauen*Männern, mit und ohne familiäre Migrationserfahrung, muslimisch/jüdisch/christlich sozialisiert oder atheistisch bzw. agnostisch. So kann eine authentische Art und das Vorleben der Trainer*innen, die selbst muslimischen Glaubens sind, hin und wieder Jugendliche positiv inspirieren und bei bereits radikalisierten oder radikalisierungsgefährdeten jungen Menschen Veränderungsimpulse setzen. Gerade Jugendliche, die aus konservativen Familien stammen, können davon profitieren im Rahmen unserer Workshops auf muslimische Trainer*innen zu treffen, die nicht den Klischees oder Erwartungen der Jugendlichen entsprechen: Etwa, dass die Trainer*innen keine vermeintlich religiös konnotierte Kleidung tragen oder vielleicht auch keinen „typisch muslimisch“ klingenden Namen, keine langen Bärte haben und auch den Koran nicht unbedingt auswendig zitieren können – und sich trotzdem sehr gut auskennen mit Religion und islamischer Geschichte, mit Werten und dem Verhalten als „guter Muslim*gute Muslimin“ bzw. schlicht „guter Mensch“. Dabei zeigen die Trainer*innen, dass es nicht darum geht, über Autorität und Auswendig-Lernen Wissen zu vermitteln – sondern dass es Spaß machen kann, offen über Religion zu sprechen, zu hinterfragen, sich auszutauschen. Ein umfangreiches Fachwissen, teils verbunden mit eigener religiöser Lebenspraxis, zeigt den Jugendlichen, dass es möglich ist, in religiösen Fragen auf sich selbst zu vertrauen. In diesem Kontext ermutigen wir sie stets zu recherchieren und sich zu den angesprochenen Themen weiterzubilden.

Ein Tandem, bei dem der*die eine Trainer*in muslimisch ist, der*die andere christlich/jüdisch/atheistisch/agnostisch, löst bei manchen Jugendlichen Verwunderung aus und dekonstruiert ein mitunter einseitiges Religions- und Weltbild; dies kann das Interesse an einem interreligiösen Dialog anregen. Hierbei zählt für uns die Differenzierung zwischen Ideal und Praxis. Das soll den Jugendlichen helfen, Religion(en) nicht als ein unerreichbares Mysterium oder Vakuum zu erleben, sondern sich mit Religion(en) auseinanderzusetzen und Glauben als etwas Lebensnahes und tatsächlich Handhabbares zu betrachten. Unser Wunsch ist es, Schüler*innen dabei zu begleiten, zu mündigen Bürger*innen zu werden, die bewusst und achtsam sind, die die Welt aus verschiedenen Perspektiven betrachten und sich für ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft begeistern und die sich aktiv in sozio-politische Prozesse einbringen können. Um die Aufmerksamkeit und die Anerkennung der Schüler*innen und das daraus resultierende Vertrauen zu erwerben, ist es für uns Trainer*innen nicht in erster Linie wichtig, sympathisch zu sein, sondern vor allem in unserem spezifischen Arbeitsauftrag unsere eigene authentische Persönlichkeit, den Bezug zum Thema und das Wissen zu den Religionen sowie unsere interreligiöse/interkulturelle Kompetenz in den Vordergrund zu stellen. Das Wissen und die Erfahrung der Trainer*innen signalisiert den Schüler*innen Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit und weckt ihr Interesse und Bedürfnis mehr zu erfahren.

Bundesweiter Austausch und spezifische Herausforderungen

Die verschiedenen Beratungsstellen und Projekte von Violence Prevention Network stehen im Austausch miteinander und teilen neu gewonnene Erkenntnisse sowie neu konzipierte Methoden in speziell dafür eingerichteten Arbeitskreisen. Die Präventionsangebote im Kontext Schule unserer Beratungsstellen richten sich an dieselbe Zielgruppe, zumeist Schüler*innen ab der 9. Jahrgangsstufe, und wir verfolgen dieselben pädagogischen Ziele. Die Schulklassen und regionalen Kontexte in denen wir arbeiten sind jedoch sehr unterschiedlich, weshalb wir sowohl die inhaltliche Schwerpunktsetzung als auch die Wahl der Methoden und die Zusammenstellung der Trainer*innen-Teams unterschiedlich gestalten. Im bundesweiten Vergleich zeigt sich, dass es sehr spezifische Herausforderungen und unterschiedliche Bedarfe sowohl innerhalb der jeweiligen Schulen und Schulformen, als auch in den einzelnen Bundesländern aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammensetzung gibt.

Während wir in Berlin vorwiegend mit Schulklassen arbeiten, in denen die Mehrzahl der Schüler*innen eigene oder familiäre Migrationserfahrungen hat, sind die Schulklassen mit denen wir in Sachsen arbeiten, überwiegend weiß[1]. Auch das Verhältnis von Jugendlichen, die sich selbst als religiös bezeichnen oder durch ihre Sozialisation religiöse Haltungen vermittelt bekommen haben, ist im Vergleich zu Jugendlichen aus atheistisch geprägten Familien in Berlin ganz anders als in Sachsen. Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen die Schüler*innen auf die Welt blicken und die Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position gemacht haben, erfordern zielgruppenspezifisch angepasste Zugänge und Workshop-Konzepte. Unser Ziel ist es, dass die Jugendlichen von einer Teilnahme an unseren Formaten profitieren. Daher ist es zentral, bei der Konzeption darauf zu achten, sowohl die Themen als auch die Wahl der Methoden so anzupassen, dass sie zur jeweiligen Gruppe passen. Starre Konzepte zeitigen hier nicht die erwünschten Ergebnisse, obgleich die Vorbereitungszeit dadurch erheblich verlängert wird.

Empowerment ist Teil von Prävention

Oft arbeiten wir mit Klassen aus sogenannten Brennpunktschulen. In unseren Workshops erleben wir viele junge Menschen, die aus weniger privilegierten Lebenssituationen kommen und in ihrem Alltag teils von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind. Konsequenz dessen ist nicht zuletzt, dass viele Schüler*innen ein geringes Selbstbewusstsein haben, unsicher sind oder ein negatives Selbstbild haben. Das Selbstwertgefühl zu steigern, ist ein zentraler Aspekt erfolgreicher Präventionsarbeit. Da wir in der Regel maximal drei Tage mit einer Schulklasse arbeiten, können wir nur Denkprozesse anstoßen und Veränderungsimpulse setzen. Doch diese Erfahrungen sind für viele Schüler*innen wertvoll und können mehr bewegen, als im ersten Moment sichtbar wird. Eine gründliche Vor- und Nachbereitung der Workshops mit Lehrkräften oder Sozialarbeitenden, die die Jugendlichen längerfristig begleiten, kann die Wirkung der Workshops verstärken und sorgt dafür, dass unsere Projekttage nicht einfach „verpuffen“.

Unsere Haltung als Trainer*innen zeichnet sich dadurch aus, dass wir überzeugt sind: In jedem Menschen – und besonders in Jugendlichen – steckt die Fähigkeit, sich das Gute zu wünschen und mit sich selbst zufriedener zu sein, indem sie sich weiterentwickeln und gute Qualitäten an sich selbst erkennen und stärken. Um den Jugendlichen dies zu vermitteln, loben wir sie viel. Auf unpassende Antworten reagieren wir nicht abwertend oder konfrontativ, sondern nehmen erst einmal wahr, was der*die Jugendliche sagt: Was ist der „gute Grund“, der hinter einer Aussage oder einem Verhalten steckt? Wir hören zu, fragen nach, zeigen Interesse. Wertschätzende Kommunikation bedeutet etwa, dass wir zunächst sagen „das ist ein interessanter Aspekt“, bevor wir unsere Sicht auf das jeweilige Thema darstellen und auch Hintergrundinformationen und Wissen vermitteln. Wir fragen nach der Meinung der Schüler*innen, ermuntern sie zu diskutieren, nachzufragen, sich zu positionieren – begleiten sie dabei, sich eine Meinung zu bilden. Wir bemühen uns, auch in der relativ kurzen Zeit mit den Jugendlichen eine persönliche Arbeitsbeziehung zu jedem und jeder einzelnen aufzubauen, Stärken zu erkennen und positives Feedback zu geben.

Genderunterschiede in der Präventionsarbeit?

Wir arbeiten in unseren Workshops mit gemischtgeschlechtlichen Schulklassen und Jugendgruppen. In den gemeinsamen Workshops gibt es bezüglich der praktischen Arbeit kaum (Gender-)Unterschiede. Teilweise sind unterschiedliche Themen oder andere Schwerpunkte für die einen oder anderen Schüler*innen relevanter oder besonders interessant. In einem Teil des Islam-Workshops sprechen wir etwa über die Genderdynamiken in muslimischen Familien. Dabei wird oft deutlich, dass manche Familien ein restriktives Erziehungsmodell bezüglich ihrer Töchter, jedoch ein weniger restriktives bezüglich der Söhne anwenden. Da es in den einzelnen Familien erhebliche Unterschiede gibt, ist dies ein sehr interessanter Diskussionsbereich für die Jugendlichen. Auch das Thema „Familienehre“ wird hier tangiert und ein offener Austausch angeregt. Die Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Rollenverständnissen ist für viele Jugendliche, insbesondere in der Pubertät, wichtig. Welche Erwartungen gibt es an sie und wie fühlt es sich an, wenn stets bestimmte Verhaltensweisen von einem*einer erwartet werden? Was macht es mit den Jugendlichen, einem bestimmten Bild entsprechen zu müssen und wie können sie mit dem Druck umgehen, dieser Erwartungshaltung gerecht zu werden? Wie können sie mit ihren Eltern und Geschwistern darüber ins Gespräch kommen, ihre Bedürfnisse wahrnehmen und vielleicht sogar Gefühle und Emotionen teilen?

Sowohl für Mädchen als auch für Jungen sind Gespräche über die eigene Biographie und das Elternhaus wichtige Themen. Für Mädchen können Fragen zu Kleidung, traditionellen Rollenverständnissen, Beziehungen und Sexualität eine größere Rolle spielen, als für Jungen. In der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen legen wir oft noch mehr Wert darauf, sie zur Selbstwirksamkeit zu ermutigen, da sie häufig stärker von Diskriminierungen betroffen sind – etwa durch das Tragen eines Kopftuches im öffentlichen Raum, aber auch aufgrund ihres Geschlechts und dem in allen Lebensbereichen erlebten Sexismus, der für Mädchen und Frauen (egal ob muslimisch oder nicht) in unserem patriarchalen Gesellschaftssystem allgegenwärtig ist. Für Mädchen, die in Familiensystemen mit einem konservativen, traditionellen Islamverständnis aufwachsen, können Unterdrückungsmechanismen mitunter noch stärker wirken.

GENDERUNTERSCHIEDE

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlechterrollen ist für viele Jugendliche spannend und wichtig, weshalb wir dafür einen Raum für Austausch schaffen. Eine Methode, die meist spannende Diskussionen eröffnet, ist folgende: Alle Jugendlichen stellen sich in die Mitte des Raumes. Die Workshop-Leitung liest nacheinander Sätze vor: Stimmen die Jugendlichen der Aussage zu, gehen sie auf die eine Seite des Raumes (z. B. zur Fensterseite, zur Tafel, etc.). Lehnen sie die Aussage ab, stellen sie sich auf die andere Seite (z. B. zur Tür, zur Pinnwand, etc.). Sätze können beispielsweise sein: „Ich würde gerne mal einen Tag lang ausprobieren wie es ist, ein Junge*ein Mädchen zu sein.“, „Es ist komisch, wenn Mädchen gern Fußball spielen.“, „Jungs dürfen abends länger alleine draußen bleiben als Mädchen.“, „Mädchen helfen öfters beim Kochen und im Haushalt.“, „Es ist komisch, wenn Jungs weinen.“, etc. Die Workshop-Leitung kann nach jedem Satz mit den Jugendlichen ins Gespräch gehen und einen Austausch in der Gruppe zu den jeweiligen Themen anregen.

Für viele Jugendliche ist es das erste Mal, dass sie so offen über Genderunterschiede sprechen und auch die Rollen in ihrer Familie hinterfragen. Ein Gespräch zu moderieren, in dem Mädchen beispielsweise den Wunsch äußern, abends länger draußen bleiben zu dürfen als ihre Brüder, kann sehr spannend sein und den Jugendlichen ganz neue Impulse geben. Wenn es der Workshop-Leitung gelingt, durch das Stellen der „richtigen“ Fragen die Jugendlichen zu begleiten, ein Thema wie dieses aus anderen Perspektiven zu betrachten, können Jugendliche komplexe Themen und Zusammenhänge gut erarbeiten und hinterfragen. Die Frage „Warum dürfen die Jungs in eurer Familie länger draußen bleiben?“ führt zu verschiedenen Erklärungen der Jugendlichen: „Weil es für Mädchen gefährlich ist, abends noch lange draußen zu sein.“, „Weil Jungs stärker sind als Mädchen.“, oder „Weil sich Jungs besser verteidigen können.“. Anstatt dies so stehen zu lassen, bietet sich die Reflexion über Geschlechterrollen und auch über patriarchale Strukturen an:

„Warum ist es denn gefährlich für Mädchen?“

– „Weil sie angegriffen, belästigt, verletzt werden können“.

„O.k., Mädchen werden öfters belästigt und teilweise sogar angegriffen. Das stimmt. Und ihr sorgt euch also um die Sicherheit von euren Schwestern, darum sollen sie lieber zuhause bleiben?“

– „Ja, genau!“

Das sehen viele männliche Jugendliche so. Im weiteren Gespräch wird meist deutlich, dass Brüder ihre Schwestern „beschützen“ wollen. Viele Jugendliche sagen etwa, es sei in Ordnung, ein Mädchen zu bestrafen, wenn es sich nicht „an die Regeln hält“. Es sei für viele Jungs wichtig, die Mädchen in der Familie zu kontrollieren und „auf sie aufzupassen“.

Die Workshop-Leitung achtet darauf, den „guten Grund“ zu verstehen und anzuerkennen, dass es eine positive Motivation ist, aus der die Jungs handeln – sie haben den Wunsch, „alles richtig zu machen“ und sich „gut um die Familie zu kümmern“. Diese Rolle zu besprechen und auch den Druck, der damit einhergeht, braucht Zeit.

Die Workshop-Leitung kann beispielsweise weiter fragen:

„Und von wem werden die Mädchen, wenn sie abends länger draußen sind, meist angegriffen? Von anderen Mädchen?“

– „Nein, von Jungs natürlich! Und von Männern.“

Da ist sich die Klasse einig. Ein moderiertes Gespräch über körperliche Gewalt, über Verhaltensweisen und -regeln bietet sich hier an.

„O.k., also sind Jungs meist diejenigen, die die Straßen unsicher machen? Die auch gefährliche Sachen machen?“

– „Ja, auf jeden Fall. Mädchen machen das nicht.“

Auch hier kann das Gespräch weitergeführt werden: Stereotype können diskutiert werden und die Frage, wer wie viel (öffentlichen) Raum einnimmt, bzw. wem welcher Raum zugesprochen wird.

„Also wenn wir die Straßen sicher haben wollen, wäre es dann nicht klug, wenn abends einfach nur noch Mädchen raus gehen dürfen und alle Jungs zuhause bleiben müssen? Und so lange den Haushalt übernehmen?“

So haben es die Schüler*innen noch nicht betrachtet. In einem moderierten Gespräch, das hier sehr verkürzt dargestellt wurde, gelingt es der Workshop-Leitung, ein sehr komplexes Thema und die Wirkmechanismen von patriarchaler Gewalt an einem für die Schüler*innen greifbaren Beispiel, das Bezug zu ihrer persönlichen Lebensrealität hat, zu erfassen. Das moderierte Gespräch ist wesentlich umfassender, als dies hier im Text dargestellt werden kann. Die Jugendlichen werden darin unterstützt, zusammen in der Gruppe darüber nachzudenken, warum die Welt, in der sie leben, eigentlich so ist, wie sie ist. Warum die Regeln so sind und ob sie sinnvoll sind. Sie lernen, die Frage zu stellen, ob es nicht widersprüchlich ist zu behaupten: „Wir wollen unsere Schwestern schützen, darum sollen sie zuhause bleiben.“ – anstatt zu sagen: „Wir kümmern uns darum, dass unsere Brüder aufhören, Gewalt gegen Mädchen/Frauen auszuüben. Und wenn sie sich nicht im Griff haben, sollen sie zuhause bleiben und kontrolliert werden – anstatt die Mädchen zu kontrollieren und sie einzuschränken.“ Dies ermöglicht, vermeintlich „logische“ Verhaltensregeln zu hinterfragen und darüber nachzudenken, wie sie sich als Jungen*Mädchen in ihrer Familie und in der Schule in ihrer Rolle verhalten – und zu überlegen, ob diese Rolle zu ihnen passt.

Workshops als Baustein im System Schule

Wie bereits beschrieben, achten die Trainer*innen darauf, passgenaue Formate für den jeweiligen Kontext zu konzipieren. Dazu stimmen wir uns mit Lehrkräften und Sozialarbeitenden an den jeweiligen Schulen oder Jugend(hilfe)einrichtungen ab. Sie kennen die Jugendlichen am besten, erleben sie im Alltag und können einen großen Teil dazu beitragen, dass die Impulse, die wir durch unsere Workshops setzen, längerfristig wirken. Die Expertise der Pädagog*innen trägt dazu bei, unsere Angebote so zu konzipieren, dass sie zu den Jugendlichen passen. Je nach Schulklasse bietet es sich an, dass Lehrkräfte den Projekttag vorbereiten – etwa, indem sie mit ihren Schüler*innen bereits zum Thema arbeiten, bevor wir als „Expert*innen“ einen Workshop umsetzen und vertiefend darauf aufbauen. Auch eine Nachbereitung ist bei manchen Themen wichtig, damit die oft komplexen Inhalte, die in nur einem Projekttag erarbeitet wurden, nicht verfliegen und im Alltag untergehen. Hier sind wir im engen Austausch mit den Schulen.

Überdies unterstützen wir Kollegien auch in Form von Einmal-Coachings und institutionellen Beratungen, wenn pädagogisches Fachpersonal (vermeintliche) Radikalisierungsverläufe bei Jugendlichen feststellt. Auch die Sensibilisierung von Fachkräften sowie die Weiterbildung zum Thema sind wichtige Bausteine, damit die Schule als Ganzes betrachtet wird und Prävention nachhaltig wirkt. Wir bieten daher auch Fortbildungen und Beratungsgespräche für Lehrkräfte und Sozialarbeitende an. Es ist uns ein Anliegen, das „System Schule“ als Ganzes zu betrachten und sowohl Jugendliche, als auch Pädagog*innen dafür zu begeistern, sich mit den von uns bearbeiteten Themenfeldern auseinanderzusetzen. Wenn wir das Ziel haben, junge Menschen zu stärken, damit sie sich als Teil der Gesellschaft verstehen und nicht empfänglich sind für extremistische Weltanschauungen, ist es essenziell, sie nicht zu bevormunden oder „zum Problem zu machen“, sondern einen Raum für Dialog zu schaffen, eine offene Kommunikation sowie Vertrauen zwischen Pädagog*innen und Jugendlichen zu fördern und Begegnungen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Aus unserer Perspektive ist es sehr hilfreich, wenn nicht nur punktuell Schüler*innen und Jugendliche, sondern auch Lehrkräfte und Sozialarbeitende sich mit Themen wie Identität und Religion auseinandersetzen. Ein Perspektivwechsel und ein authentisches Interesse erwachsener Bezugspersonen an den Lebensrealitäten der Jugendlichen fördert den Zusammenhalt an der Schule und ermöglicht es, alle Jugendlichen miteinzubinden. Letzten Endes sind Workshop-Angebote nur Ergänzungen des Regelangebots, die ihre volle Wirkung erst dann entfalten, wenn das System Schule kontinuierlich zusammenarbeitet, um Schüler*innen dabei zu unterstützen, zu reifen, reflektierten Persönlichkeiten heranzuwachsen.

[1]weiß wird an dieser Stelle kursiv und klein geschrieben, um die Konstruktion des Begriffes hervorzuheben. Es handelt sich nicht um eine Hautfarbe, sondern um Privilegien, die mit der Hautfarbe einhergehen“, s. https://www.politische-medienkompetenz.de/service/glossar/.

Die Autor*innen:

Feride Aktaş hat einen Master of Science in Wirtschaftsinformatik und leitet die Beratungsstelle Berlin von Violence Prevention Network. Die ausgebildete Anti-Gewalt- und Kompetenztrainerin (AKT®) konzipiert und leitet Fortbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen für Multiplikator*innen und begleitet radikalisierungsgefährdete und radikalisierte junge Menschen im Haftkontext und außerhalb.

Julia Nowecki leitet die Beratungsstelle Sachsen von Violence Prevention Network. Die studierte Islamwissenschaftlerin und Arabistin konzipiert und leitet Fortbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen für Multiplikator*innen. Im Tandem mit pädagogischen Projektmitarbeitenden gestaltet sie Präventionsworkshops für Jugendliche an Schulen und begleitet radikalisierungsgefährdete und radikalisierte junge Menschen im Haftkontext und außerhalb.