RND-Interview

Kommissar für Krisenschutz: EU ist auf Blackouts und Verstrahlung vorbereitet

Strommasten und Windräder rund um das Kohlekraftwerk Neurath: Auch die EU will gegen Blackouts in Europa gewappnet sein.

Strommasten und Windräder rund um das Kohlekraftwerk Neurath: Auch die EU will gegen Blackouts in Europa gewappnet sein.

Berlin. Der EU‑Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarčič, stammt aus Slowenien und war zuvor Direktor des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE. Seit 2019 arbeitet er in der Kommission unter Ursula von der Leyen, wo er neben der humanitären Nothilfe der EU auch die Entwicklungspolitik und den Katastrophenschutz der Kommission verantwortet.

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Im RND-Interview spricht er über Deutschlands Rolle in der humanitären Hilfe weltweit sowie für die Ukraine, über die Vorbereitungen auf einen Energiekrisenwinter und darüber, wie die EU andere Krisenherde im Blick behält.

Herr Kommissar, Sie haben in Berlin gerade mit Außenministerin Annalena Baerbock und anderen deutschen Regierungsvertretern darüber gesprochen, wie die Europäische Union auf die Mehrfach­krise in der Welt reagieren kann. Fürchten Sie, es überlastet die EU und den Westen, dass Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation, Pandemiefolgen und Klimakrise gleichzeitig über uns hereinbrechen?

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Nein, aber es ist klar, dass wir gut vorbereitet sein müssen. Das betrifft zunächst die Situation draußen in der Welt. Wir sehen, dass der Bedarf an humanitärer Hilfe explodiert – und daraus eine Finanzierungslücke, die wir gemeinsam schließen müssen.

Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarčič, sieht Europa für einen Krisenwinter gewappnet.

Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarčič, sieht Europa für einen Krisenwinter gewappnet.

In Brüssel handeln die EU-Mitgliedsstaaten und das Parlament gerade den EU-Haushalt für das nächste Jahr aus. Wenn Ihnen Geld für internationale Nothilfe, Katastrophenschutz und Entwicklungshilfe fehlt: Haben Sie also Frau Baerbock um höhere deutsche Zusagen für diesen EU-Topf gebeten?

Deutschland zählt neben den USA und der EU‑Kommission zu den größten Spendern der Welt. Gerade in diesen Zeiten der Mehrfachkrise sind wir sehr froh über den beträchtlichen deutschen Anteil an der Finanzierung humanitärer Hilfe – und ich habe meine Hoffnung ausgedrückt, dass er auch 2023 mindestens auf diesem Level bleibt. Und ich habe Frau Baerbock darin bestärkt, für eine Erhöhung der humanitären Ausgaben der EU einzutreten. Deutschland hat als größtes Geberland eine besonders relevante Stimme in den Haushaltsverhandlungen.

In Deutschland reden wir derzeit vor allem über die Kriegsfolgen, aber auch hier waren die Kata­strophen wie Hochwasser, Dürre und Trockenheit zu spüren. Missernten und Waldbrände gab es in diesem Jahr in vielen EU-Staaten. Was hat weltweit den größeren Bedarf an humanitärer Hilfe verursacht?

Die Klimawandelfolgen wachsen enorm. Aber der größte Treiber sind noch immer die Konflikte in der Welt: Etwa 80 Prozent des Bedarfs an humanitärer Hilfe folgen aus kriegerischen und anderen Konflikten – inklusive dem jüngsten und Europa nächsten Konflikt, der russischen Aggression gegen die Ukraine. Deren humanitäre Auswirkungen betreffen natürlich in erster Linie die Ukraine, wo sie riesige Fluchtbewegungen ausgelöst hat: Sieben Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, weitere sieben Millionen sind Binnenflüchtlinge – und sie alle brauchen humanitäre Hilfe.

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Sind Sie zufrieden mit den Spenden für die Ukraine aus dem Rest der Welt?

Sagen wir es so: Die EU hat ihre Krisenhilfe verstärkt – für die Ukraine, aber auch für die Krisenregionen in Afrika und etwa in Pakistan, das die größten Überschwemmungen seit Menschengedenken durchleidet. Insgesamt bringen allein die EU‑Kommission, Deutschland und die USA fast zwei Drittel der weltweiten Gelder für humanitäre Hilfe auf. Das heißt, dass da offensichtlich andere Länder sind, die mehr tun könnten und sollten. Ich habe mit Frau Baerbock auch besprochen, dass wir das auf verschiedenen Ebenen ansprechen werden: Im Kreis der G7, aber auch der G20 und der Vereinten Nationen.

Weil der Ukraine-Krieg auch die humanitäre Situation im Rest der Welt verschärft?

Nicht er allein. Aber allein, dass die russische Führung die Energielieferungen an den Weltmarkt manipuliert, wird zur Belastung vieler Menschen, zumal die Energiekrise zugleich die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt und für Millionen Menschen Lebensmittel unbezahlbar werden.

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Verschärft wird diese Krise zusätzlich durch die Blockade oder Besetzung von 90 Prozent der Schwarzmeer­häfen, über die die Ukraine als einer der bislang größten Exporteure von Agrarprodukten die Welt beliefert. Es war sehr aufwendig, dieses Problem zu lösen, aber die EU hat sehr schnell „Solidaritätskorridore“ organisiert, sodass bis heute zehn Millionen Güter per Schiene, Straße und Wasserwege exportiert wurden. Parallel dazu hat die EU die Vermittlungen durch die Vereinten Nationen und die Türkei unterstützt, die Häfen zu öffnen – durch die Vereinbarung konnten weitere vier Millionen Tonnen ausgeführt werden.

Kann so der Hunger in den Empfängerländern abgewendet werden, der wegen des Krieges befürchtet worden war?

Die Exporte lindern die globale Nahrungskrise – aber wir müssen weiter daran arbeiten und die Kapazitäten der Solidaritätskorridore ausbauen und mehr Häfen öffnen. Denn noch immer liegen die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel höher als vor dem Krieg. Das liegt auch an den Energiepreisen und dem Mangel an Dünge­mitteln, für deren Herstellung vor allem Gas benötigt wird.

Der Ukraine-Krieg ist nicht der einzige Konflikt, der humanitäre Not auslöst. Sorgen Sie sich, dass die vielen anderen Konflikte jetzt aus dem Blick geraten?

Die EU-Kommission verliert sie ganz und gar nicht aus dem Blick. Bei uns wurde wegen der Ukraine-Krise kein einziger Euro aus einem Programm für auch nur einen einzigen Krisenherd der Welt abgezogen. Denn das Schlimme ist: Auch die anderen Notlagen verschärfen sich gerade – zum einen, weil die Konflikte selbst eskalieren, etwa im Norden Äthiopiens, wo anhaltende Bombenangriffe die humanitäre Hilfe erschweren.

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Auch die Corona-Pandemie traf die ärmsten Regionen besonders hart – und ebenso der Klimawandel.

Ja, das verschlimmert die Not zusätzlich, derzeit etwa in der Sahelzone, am Horn von Afrika oder auch in Afghanistan. Entwicklungsprobleme und Klimawandelfolgen wie Verödung der Böden, Dürre oder Über­schwemmungen sind oft die wahren Ursachen hinter Konflikten – oder verschärfen sie. Aus meiner Sicht muss die Entwicklungshilfe der EU deshalb immer parallel zur humanitären Nothilfe fließen, um die Wurzeln des Leids anzugehen. Und sie muss künftig immer auch die nötige Anpassung an den Klimawandel mit umsetzen. Sonst müssen wir an denselben Orten immer wieder dieselbe humanitäre Not lindern – das wird uns früher oder später überwältigen, weil der Klimaeffekt immer stärker wird.

Fürchten Sie, dass in Zeiten von Energiekrise und Inflation die EU-Bürger solche Hilfen für notleidende Regionen skeptischer sehen? Gerade hat sogar in Italien ein rechtes Bündnis mit dem Slogan „Italien zuerst!“ die Wahl gewonnen.

Selbst wenn wir moralische Fragen einmal ausklammern – was ich ungern tue, weil Solidarität zwischen den EU‑Mitgliedern, aber auch mit dem Rest der Welt ein wichtiger Teil der Werte ist, auf denen die EU gegründet wurde –, aber darüber hinaus gibt es sehr pragmatische Gründe, warum wir helfen sollten: Es ist eine komplette Illusion, dass Europa in einer modernen, eng vernetzten Welt als eine Insel des Wohlstands in einem Meer des Elends überleben kann. Wer also Slogans benutzt wie „Mein Land zuerst“ übersieht diese simple Tatsache: Wenn wir das Elend um uns herum nicht angehen, wird es stattdessen zu uns kommen.

Um für die Nothilfe und den Katastrophenschutz der EU zu werben, könnten Sie ja auch darauf hinweisen, dass die Programme auch den Mitgliedsstaaten helfen. Oder kommt das zu selten vor?

Das betrifft vor allem den Katastrophenschutz – also bei Waldbränden, Überschwemmungen, Erdbeben und so weiter, und es kommt tatsächlich immer wieder vor und wird weiter ausgebaut. Schon vor 20 Jahren entstand aus der Annahme, dass sich die Mitgliedsstaaten in seltenen Extremfällen untereinander helfen müssen, ein Koordinationszentrum der EU‑Kommission, das für eilige Hilfsgesuche – sei es nach Stromgeneratoren, Treibstoff oder Wasserpumpen – rund um die Uhr erreichbar ist und die Lieferungen innerhalb der EU koordiniert.

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Und weil es im Fall von mehreren gleichzeitigen Krisen auch EU‑weit zu Mangel an Material und Gerät kommen kann, haben wir eine eigene strategische Reserve aufgebaut: zunächst an Löschflugzeugen, später auch an medizinischem Gerät und sogar an Medizin.

Bereiten Sie sich angesichts von Krieg und Energiekrise auf einen Krisenwinter vor?

Ja. Schon während der Corona-Pandemie haben wir gelernt, dass wir nicht erst im Krisenfall reagieren können, und versuchen deshalb inzwischen, künftige Krisen vorherzusagen. Und wir waren ziemlich erfolgreich mit unserer Vorhersage, muss man sagen: Denn schon vor dem Krieg haben wir uns auch gegen chemische, biologische, radiologische und nukleare Notfälle gewappnet. So konnten wir nun schon fünf Millionen Jodtabletten an die Ukraine liefern, für die Anwohner bedrohter Atomkraftwerke.

Rechnen Sie damit, dass wegen der Energiekrise Ihre Katastrophenhilfe auch innerhalb der EU nötig wird?

Ja, das ist gut möglich. Wir arbeiten an zwei denkbaren Szenarien: Wenn nur ein oder eine kleine Zahl an Mitgliedsstaaten von einem kleinen Zwischenfall wie einem Blackout betroffen ist, können andere EU‑Staaten über uns Stromgeneratoren liefern, wie es während Naturkatastrophen geschieht. Wäre aber eine große Zahl an Ländern betroffen, sodass die EU‑Staaten ihre Nothilfelieferungen deckeln müssten, sind wir in der Lage, den Bedarf aus unserer strategischen Reserve zu bedienen.

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Und das wird trotz EU-Bürokratie im Notfall schnell genug geliefert?

Ja, so konnte Slowenien, dessen Stromnetz nach einem Schneesturm beschädigt war, und Kroatien nach den Erdbeben Ende 2021, noch am gleichen Tag mit Generatoren und Treibstoff geholfen werden. Aber es gibt auch Fälle, wo Hilfe über mehrere Tage oder Wochen gebraucht wird. Zum Beispiel hat Deutschland in diesem Sommer erstmals Hilfe über den EU‑Katastrophenschutzmechanismus angefragt: Bei den Waldbränden im Harz konnten wir Löschflugzeuge organisieren, die vier Tage lang mehr als hundertmal Wasser abgeworfen haben.

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